»Keine Spur«, entgegnete Themistokles.
Kim schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber dann«, sagte er unsicher, »dann haben mir die beiden die ganze Zeit über nur Theater vorgespielt.« Er grinste. »Eigentlich hätte ich längst darauf kommen müssen. So, wie Gorg auf die schwarzen Reiter losgegangen ist, war von Feigheit nichts mehr zu spüren.«
Jetzt war die Reihe an Themistokles, überrascht zu sein. »Feigheit?« sagte er verwundert. »Gorg und feige? Ich kenne den Riesen gut. Er und Kelhim sind nicht nur die besten Freunde, die man sich wünschen kann. Sie sind auch die tapfersten Burschen, die mir jemals begegnet sind. Das einzige, was man ihnen vielleicht vorwerfen kann«, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, »ist, daß sie manchmal einen sehr skurrilen Humor entwickeln.«
X
Den ganzen Tag und noch weit bis in den Abend hinein ritten sie nach Süden. Themistokles schien mit jedem Schritt, den sie vorankamen, ungeduldiger zu werden. Alle waren müde und erschöpft, aber Themistokles gönnte weder den Männern noch ihren Tieren tagsüber eine Rast, und am nächsten Morgen drängte er lange vor Sonnenaufgang zum Weitermarsch.
Die Landschaft, durch die sie ritten, änderte allmählich ihren Charakter. Der Wald lichtete sich und wurde jetzt immer öfter von großen, sonnigen Lichtungen unterbrochen, um schließlich von einer flachen, von hüfthohem gelbem Gras bewachsenen Steppe abgelöst zu werden. Am frühen Vormittag stießen sie auf eine Straße, die sie weiter nach Süden, aber auch ein wenig in westliche Richtung und fort vom Gebirge führte. Ein Dorf zog in weiter Entfernung an ihnen vorbei, dann ritten sie stundenlang durch große, quadratisch angelegte Felder und schließlich wieder durch gelbe Steppe. Kim wich während der ganzen Zeit nicht von Themistokles' Seite, redete unermüdlich auf den Zauberer ein und bestürmte ihn mit Fragen. Themistokles antwortete geduldig, und Kim erfuhr viel über Märchenmond, seine Geschichte und seine Bewohner - mehr, als er in der kurzen Zeit begreifen und verdauen konnte. Und mit jeder Antwort schien sich die Zahl der ungelösten Rätsel zu erhöhen. Aber Kims Neugierde war unersättlich.
Die Sonne kletterte langsam am Himmel empor. Es wurde warm, dann heiß, und Kim verspürte wachsenden Durst, zu dem sich bald Hunger und dann auch Müdigkeit gesellten. Den anderen erging es nicht besser. Die Einhörner schritten bei weitem nicht mehr so kraftvoll und ruhig aus wie zu Anfang, und auch ihre Reiter hockten schlaff in den Sätteln. Aber wieder gönnte ihnen Themistokles keine Pause.
Endlich, die Mittagsstunde war schon vorüber, und Kim glaubte allmählich, vor Schwäche und Müdigkeit nicht länger im Sattel sitzen zu können, wirbelte weit vor ihnen eine gelbe Staubwolke über der Straße auf. Als sie näher kamen, erkannten sie eine Schar von etwa fünfzehn Reitern.
Themistokles ließ anhalten und erlaubte seinen Männern abzusitzen. Erschöpft taumelten sie aus den Sätteln und ließen sich abseits der Straße ins hohe Gras sinken. Auch Kim stieg ab, hockte sich ins Gras und blickte den fremden Reitern erwartungsvoll entgegen.
Es waren große, dunkelhaarige Männer, die sich auf eine schwer zu bestimmende Art alle zu gleichen schienen. Ihre Gesichter waren schmal und braungebrannt und ihre Körper, obwohl gertenschlank, ungemein kräftig und muskulös. Sie saßen mit solch natürlicher Anmut auf den Pferden, als ob sie mit den Tieren verwachsen wären. Sie trugen dunkle Kleider aus gegerbtem Leder, die Arme und Beine freiließen, und ritten, wie Kim mit einem Anflug von Neid feststellte, ohne Sättel und Zaumzeug.
Die Reiter galoppierten heran und verhielten dicht vor Themistokles, der als einziger auf dem Rücken seines Einhorns sitzen geblieben war, um das Begrüßungskomitee - denn um ein solches handelte es sich - seinerseits zu begrüßen. Zu Kims Verwunderung war der Sprecher der Reiter kaum älter als er selbst; dreizehn, vielleicht vierzehn Jahre alt, schlank und dunkelhäutig wie seine älteren Begleiter, aber mit etwas hellerem Haar und aufmerksamen blauen Augen. Seine Stimme klang selbstbewußt wie die eines Erwachsenen, als er das Wort an Themistokles richtete.
»Seid gegrüßt, Herr von Gorywynn«, begann er ein wenig steif. Er deutete ein Kopfnicken an, lenkte sein Pferd mit sanftem Schenkeldruck neben das des Zauberers und ließ den Blick über das Häuflein ermatteter Reiter am Straßenrand schweifen. Ein Funken Mißtrauen glomm in seinen Augen auf, als er Kim sah.
»Euer Kommen wurde uns gemeldet«, fuhr er fort. »Mein Vater sendet Euch Grüße und läßt Euch sagen, daß Ihr und Eure Begleiter auf unserem Schloß willkommen seid.« Themistokles nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Man sagte uns auch«, fuhr der Junge mit einem neuerlichen Blick auf Kims schwarze Rüstung fort, »daß Ihr einen schwarzen Reiter in Eurer Begleitung habt. Ich sehe nun, daß der Bote die Wahrheit gesprochen hat. Ist er Euer Gefangener?«
»Nein. Er gehört zu uns.«
»Zu Euch? Aber er trägt die Kleidung des Feindes!«
Themistokles lächelte. »Ihr beurteilt einen Mann nach seinem Äußeren, Prinz Priwinn«, sagte er. »Aber ein vermeintlich schlechtes Äußeres kann ebenso täuschen wie ein vermeintlich gutes. Kim ist einer der Unseren und vielleicht der Beste.«
Priwinn dachte einen Moment über Themistokles' Worte nach, zuckte dann die Achseln und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Männer im Gras.
»Unsere Boten berichteten uns, daß Eure Leute in einem schlechten Zustand sind«, sagte er. »Wir haben Wein und Brot mitgebracht, und unser Heilkundiger wird sich später um Eure Verwundeten kümmern. Ihr wurdet angegriffen?« Themistokles nickte betrübt. »Gestern. Wir stießen mit einem Trupp schwarzer Reiter zusammen. Wäre unser Freund hier«, er deutete auf Kim, »nicht hinzugekommen, wäre es noch schlechter um uns bestellt gewesen.«
Priwinn musterte Kim mit einem Blick, der deutlich seine widerstreitenden Gefühle widerspiegelte - Bewunderung, gepaart mit Mißtrauen und, wie Kim fand, einer Spur von Überheblichkeit und Verachtung.
Kim wurde es unter dem Blick des jungen Prinzen unbehaglich. Priwinn wandte sich schließlich achselzuckend ab und kehrte sich seinen Leuten zu. Auf einen Wink stiegen drei seiner Männer von den Pferden und begannen aus langhalsigen Krügen Wein auszuschenken.
»Stärkt euch«, sagte Priwinn, »und teilt das Brot mit uns. Dann laßt uns weiterziehen. Die Zeit drängt.«
Auch Kim wurde ein Becher des schweren, süßen Weins gereicht. Er nahm ihn entgegen und trank in kleinen, vorsichtigen Schlucken. Sein erster Eindruck schien Themistokles' Worte vom Vortag zu bestätigen - die Steppenreiter waren ein stolzes, unnahbares Volk. Und sie schienen großen Wert auf Förmlichkeit und Zeremonien zu legen.
Kim leerte den Becher, gab ihn zurück und stand auf. Auch die anderen erhoben sich nach und nach, um sich noch einmal auf die Rücken ihrer Tiere zu schwingen, so hart es ihnen auch ankam.
Priwinns Pferd tänzelte nervös auf der Stelle. Priwinn riß es herum und sprengte den Weg hinunter, kaum daß der letzte Mann wieder im Sattel saß.
Sie folgten den Steppenreitern in geringem Abstand. Nach einer Weile verließen sie die Straße und ritten quer durch die Steppe weiter, nun direkt nach Westen, fort vom Schattengebirge und seinen Schrecken. Kim glaubte am Horizont einen dunklen, verschwommenen Schatten auszumachen. Themistokles bestätigte seine Vermutung, daß es sich dabei um das Schloß der Steppenreiter handelte - Caivallon. Aber sie ritten nicht direkt darauf zu, sondern schlugen einen Bogen in südlicher Richtung. Auch Themistokles konnte sich das nicht erklären, nachdem Priwinn vorhin so rasch zum Aufbruch gedrängt hatte.
Wenige Minuten später sahen sie den Grund.
Priwinn deutete stumm auf eine rauchgeschwärzte Ruine, die vor ihnen aufgetaucht war. Es war ein kleines, eingeschossiges Haus, das sich natürlich in seine Umgebung einpaßte - oder eingepaßt hatte, ehe es dem Feuer zum Opfer fiel. Das Haus hatte keine Wände, sondern nur ein flaches, direkt aus dem Boden aufstrebendes Dach, das an einer Seite mit Erde und Gras bedeckt war. Vorder- und Rückseite wurden von schweren, moosbewachsenen Balken gebildet. Jetzt war ein Teil des Daches eingestürzt, und ein Wirrwarr verkohlter und geborstener Balken bedeckte in weitem Umkreis den Boden, als hätte eine fürchterliche Explosion das Haus zerfetzt. Aber das allein war es nicht, was Kims Blick und den der anderen gefangenhielt. Auf der grasbewachsenen Seite des Daches lag eine Reihe in weiße Laken gehüllter Körper aufgebahrt.