Sie starrten eine Weile wortlos auf das Schreckensbild. Endlich sagte Themistokles:
»Schwarze Reiter?«
Priwinn nickte. Kim sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. »Ja. Ein Trupp von etwa dreißig Reitern. Vor zwei Tagen, mitten in der Nacht«, sagte der Steppenprinz und fügte mit grimmiger Genugtuung hinzu: »Keiner der Schwarzen ist entkommen. Sie haben einen hohen Preis für diesen Überfall bezahlt.«
Themistokles schüttelte sanft den Kopf. »Gewalt gegen Gewalt ist keine Lösung, Prinz.«
Priwinn verzog trotzig das Gesicht. »Gewalt gegen Gewalt ist keine Lösung? Und warum seid Ihr gekommen, Herr von Gorywynn? Kommt Ihr nicht, um meinen Vater und mein Volk um Unterstützung gegen den Feind zu bitten?«
»Das stimmt«, gab Themistokles zu. »Aber ich komme auch, um zu warnen. Diese Menschen hier sind nicht die ersten Opfer dieses grausamen und überflüssigen Krieges. Sie werden auch nicht die letzten sein. Ihr müßt die Steppenfestung verlassen.«
»Verlassen?« empörte sich Priwinn. »Ihr wißt nicht, was Ihr redet, Themistokles.«
Statt einer Antwort wies der Magier auf die Ruinen, deren verkohlte Balken wie die Finger einer mahnend erhobenen Hand in den wolkenlosen Himmel zeigten. »Ihr habt uns hierhergeführt, um uns das zu zeigen«, sagte er. »Aber Ihr habt selbst noch nicht begriffen, was das, was hier geschehen ist, bedeutet.«
»Ich weiß es«, entgegnete Priwinn. Aus seiner Stimme sprach Haß. »Dreißig schwarze Reiter starben für fünf der Unseren, und dreihundert werden folgen.«
Themistokles schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. Er zügelte sein Tier und ritt an dem jungen Prinzen vorbei. Priwinn trieb seinem Pferd die Fersen in die Flanken und sprengte an die Spitze der Gruppe.
Kim war froh, daß sie weiterzogen. Die Spannung zwischen Themistokles und Priwinn erfüllte ihn mit Unbehagen. Wer weiß, wohin das noch führen würde.
Er schrak auf, als ihn jemand sanft an der Schulter berührte. Es war Themistokles.
»Ich möchte, daß du an meiner Seite bleibst«, sagte er. »Wir werden uns nicht lange in Caivallon aufhalten. Aber solange wir dort sind, möchte ich, daß du bei mir bleibst.«
»Du fürchtest um meine Sicherheit?«
»Ja. Und mit Recht, glaube mir.« Themistokles sah dem weit vorausreitenden Prinzen besorgt nach. »Du hast Priwinn erlebt, Kim. Und er ist nicht der einzige, der so denkt. Ich habe Caivallon nicht ohne Grund zum letzten Ziel meiner Reise bestimmt.«
»Sind sie alle so... so hitzköpfig?« fragte Kim.
Themistokles nickte. »Leider. Oder jedenfalls fast alle. Aber man muß sie verstehen. Caivallon liegt an der äußersten Grenze Märchenmonds, die letzte Bastion vor dem Schattengebirge. Nirgends ist der Einfluß Morgons stärker zu spüren als hier, und kein Volk hat mehr gelitten als das ihre.«
Kim drehte sich im Sattel um und blickte zu der Ruine zurück. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. »Es ist so sinnlos«, murmelte er.
»Das ist es leider nicht«, widersprach Themistokles. »Nicht von Boraas' Standpunkt aus. Was dir sinnlos erscheint, gehört aus taktischen Gründen mit zu seinem teuflischen Plan.«
»Aus taktischen Gründen?«
»Du verstehst es nicht?« Themistokles sah Kim ganz eigenartig an. »Ich dachte, du würdest es am ehesten verstehen. Terror, Kim, die schlimmste Waffe, die der menschliche Geist ersonnen hat. Die schwarzen Reiter ziehen in kleinen Gruppen mordend und brennend umher, unberechenbar, scheinbar planlos bei der Wahl ihrer Opfer. Es gibt kein System darin, nur ein Ziel. Sie säen Angst. Damit bereiten sie den Boden für die eigentliche Invasion vor. Wenn Boraas mit seinem Heer kommt, wird er ein verängstigtes, demoralisiertes Volk vorfinden.«
»Aber das ist ja... entsetzlich. Unmenschlich!« stieß Kim hervor.
»Entsetzlich? Ja. Unmenschlich? Je nachdem, wie man das Wort auslegt. Auf der Welt, aus der du stammst, Kim, wird diese Taktik tagtäglich angewandt. Von euch hat Boraas dieses Vorgehen gelernt. Ihr...« Er unterbrach sich, als ihm auffiel, wie laut seine Stimme geworden war. »Verzeih«, sagte er, nun wieder beherrscht. »Ich habe mich hinreißen lassen.« Unvermittelt wandte er sich ab, trieb sein Einhorn an und setzte sich an die Spitze seiner Reiter. Kim wollte ihm folgen, unterließ es dann aber. Ein Gefühl sagte ihm, daß es besser war, den Zauberer jetzt allein zu lassen. Themistokles war verbittert, und Kim konnte ihn im Innersten verstehen.
Er drehte sich um und blickte zum Schattengebirge zurück. Es war, als ob ein gigantischer schwarzer Schatten an der Sonne vorbeiziehe und den Tag verdunkle.
Aus der Ferne hatte Caivallon wie ein riesiger, künstlicher Berg ausgesehen, aber je näher sie dem Steppenschloß kamen, desto mehr drängte sich Kim der Vergleich mit einer mittelalterlichen, aus gedrungenen Holzhäusern errichteten Stadt auf, die ein übermütiger Riese so lange in den Fäusten geknetet hatte, bis sich die einzelnen Gebäude auf-, über- und ineinandergeschoben hatten. Caivallon war wirklich ein künstlicher, von Menschen geschaffener Berg, dachte Kim verblüfft, einem gigantischen Ameisenhaufen mit Tausenden von unsichtbaren Ein- und Ausgängen vergleichbar. Ein mächtiger, zehn Meter hoher Ringwall umgab das Steppenschloß. Zwischen den wuchtigen niedrigen Türmen auf seiner Krone patrouillierten braungekleidete Gestalten, und die wenigen Tore in der Befestigung waren niedrig und eng und sahen ganz danach aus, einem massiven Angriff standhalten zu können. Im Gegensatz zum monotonen Gelb der Steppe herrschte hier Grün vor. Jedes Fleckchen Caivallons war mit Gras und Büschen bepflanzt, und auf den langsam ansteigenden Terrassen der Steppenfestung entdeckte Kim sogar ein paar Bäume.
Aber alle Bemühungen seiner Bewohner, das gigantische Bauwerk freundlicher und lebendiger zu gestalten, konnten nicht verbergen, was Caivallon wirklich war: eine Festung, eine gewaltige, das Land in weitem Umkreis beherrschende Trutzburg, die der schwarzen Feste Morgon in Größe und Macht kaum nachstand, ja sie vielleicht sogar noch übertraf. »Bleib immer dicht bei mir, Kim«, wiederholte Themistokles, als sie durch eines der niedrigen Tore in der Befestigung ritten. Kim nickte. Jetzt begriff er, warum Themistokles ihn bei sich haben wollte. Priwinns Verhalten hatte ihm gezeigt, wie verbittert und mißtrauisch die Bewohner Caivallons waren. Seine schwarze Rüstung mochte in dieser Festung nicht gerade eine Lebensversicherung sein.
Sie ritten einen schmalen, gewundenen Weg hinauf, der sie zu einem der zahlreichen Eingänge Caivallons führte. Themistokles ließ absitzen. Männer in braunen Kleidern führten ihre Reittiere weg, und Priwinn forderte die Gäste auf, ihm zu folgen.
Mehr noch als sein Äußeres erinnerte Kim das Innere Caivallons an Morgon. Caivallon war ganz aus Holz erbaut, aus uraltem und im Laufe der Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende steinhart gewordenem Holz. Kim fragte sich, woher seine Erbauer hier, inmitten dieser baumlosen Steppe, diese ungeheuren Holzmassen genommen hatten. Doch dies war eines der Rätsel Märchenmonds, die er niemals lösen sollte.
Priwinn führte sie durch ein scheinbar endloses Labyrinth aus Gängen und Treppenfluren in einen Raum, der an der Westseite der Festung lag. Durch ein großes, glasloses Fenster fiel der Blick ungehindert über die endlose Steppe nach Westen. Der Anblick erinnerte Kim an ein Meer; ein gewaltiges, mitten in der Bewegung erstarrtes Meer, dessen gelbe Wellen irgendwo in weiter Ferne mit dem Himmel verschmolzen. Ein breiter, schnellströmender Fluß zerschnitt das Panorama in zwei unregelmäßige Hälften. An manchen Stellen wirbelte und schäumte das Wasser, wo es von Felsen und Riffen durchbrochen wurde, und einmal schoß ein Stück Treibgut so rasch vorbei, daß Kim ihm mit dem Blick kaum folgen konnte. Die Strömung mußte gewaltig sein.