Priwinn deutete auf eine lange Tafel, die mit Schüsseln voller Speisen und Krügen voll Wein und Wasser so reich beladen war, daß sie unter dem Gewicht fast zusammenbrach. »Stärkt euch«, sagte er, »und dann ruht. Der Rat der Weisen tritt zusammen, wenn die Sonne untergegangen ist. Bis dahin ruht euch aus.«
Themistokles neigte dankbar den Kopf. Er trat an die Tafel, um sich dann jedoch mit einem Seufzer der Erschöpfung auf die Kante eines der niedrigen Betten sinken zu lassen, die man in aller Eile an den Wänden aufgestellt hatte. Seine Begleiter taten es ihm gleich. Kaum einer rührte die dargebotenen Speisen an; ihre Müdigkeit war größer als der Hunger. Auch Kim ließ sich in die weichen Kissen eines Bettes sinken. Sein Magen knurrte, und seine Kehle war schon wieder so ausgedörrt, daß es beinah wehtat. Mit größter Willensanstrengung zwang er sich, die Augen offenzuhalten.
Ein grauhaariger, in ein knöchellanges graues Gewand gekleideter Mann betrat den Raum, verneigte sich flüchtig vor Prinz Priwinn und begann dann, die Wunden der Männer zu versorgen. Er wechselte Verbände, trug Salben und Tinkturen auf und murmelte dabei ununterbrochen vor sich hin.
Als die Reihe an Kim kam, hob dieser abwehrend die Hand. »Ich bin nicht verletzt«, sagte er.
»Aber Ihr seht müde aus, junger Herr. Und erschöpft. Legt die Rüstung ab, und laßt mich sehen.«
Kim gehorchte widerwillig. Er schälte sich aus dem schwarzen, verbeulten Panzer und legte auch die zerschlissenen Unterkleider ab, bis er halb nackt und nur mit einem kurzen Lendentuch bekleidet vor dem Heilkundigen saß. Nur den Umhang aus gewobenem Sternenlicht behielt er um die Schultern.
Der Heilkundige streifte das sonderbare Kleidungsstück mit einem schwer zu deutenden Blick - halb ehrfurchtsvoll, halb zweifelnd - und beugte sich dann über Kim, um ihn gründlich zu untersuchen. Wie Kim gesagt hatte, war er nicht verletzt, nicht ernstlich jedenfalls. Aber es gab unzählige kleine Kratzer und Schürfwunden, von den blauen Flecken und Prellungen ganz zu schweigen. Als die Finger des Alten sachkundig über seinen Körper glitten und einen winzigen Schmerz nach dem anderen abtasteten, wurde ihm erst bewußt, wie elend er sich die ganze Zeit gefühlt hatte.
»Trinkt dies«, murmelte der Alte, während er Kim eine flache Schale mit einer farblosen, scharfriechenden Flüssigkeit reichte. Kim hatte schon einige Kostproben der magischen Kräfte Märchenmonds und ihrer verblüffenden Heilwirkungen erhalten; er griff zu, ohne zu zögern.
»Ihr werdet jetzt schlafen«, sagte der Alte. »Und wenn Ihr erwacht, werden die Schmerzen verschwunden sein, und Ihr werdet Euch besser fühlen.«
Kim leerte die Schale und reichte sie zurück. Der Trank wirkte fast augenblicklich. Kims Glieder wurden schwer, und die vielen stechenden und pochenden Schmerzen in seinem Körper wichen einer wohltuenden Müdigkeit.
Der Heilkundige erhob sich. Kim wollte noch etwas sagen, aber seine Zunge war zu schwer. Er rollte sich auf die Seite, schloß die Augen und spürte noch, wie jemand lautlos an sein Bett trat und eine Decke über ihn breitete. Dann glitt er hinüber in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Die Sonne war untergegangen, als ihn Themistokles weckte. Kim stemmte sich hoch, blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und schwang die Beine vom Bett. Er war der letzte, alle anderen waren längst aufgestanden und hatten ihre Kleider wieder angelegt. Einige saßen an der Tafel und aßen schweigend.
»Es wird Zeit«, sagte Themistokles. »Der Rat der Weisen tritt zusammen. Wir sollten ihn nicht unnötig lange warten lassen.«
Kim stand auf und begann sich anzukleiden. Seine Rüstung war in der Zwischenzeit gereinigt worden. Das schwarze Metall schimmerte wieder wie neu, und auch die unzähligen Beulen und Kratzer waren entfernt. Neben der Rüstung lehnte ein großer, hölzerner Schild an der Wand. Kim griff danach und drehte ihn bewundernd in den Händen. Er war fast so groß wie er selbst, aus zweifingerdickem Holz gearbeitet und mit kunstvoller Einlegearbeit verziert; sie zeigte eine Taube und einen Raben, die nebeneinander auf einem Ast hockten. Trotz seiner Größe schien der Schild nahezu gewichtslos.
»Ein Geschenk von Prinz Priwinn«, sagte Themistokles, als er Kims bewundernden Blick sah.
Kim runzelte die Stirn. »Ein Geschenk?« sagte er. »Für mich?« Eigentlich hatte er den Eindruck gehabt, daß Priwinn ihn nicht besonders mochte.
»Wir sprachen über dich, während du schliefst«, erklärte Themistokles. »Priwinn mag ein stolzer und eigenwilliger Junge sein, aber er achtet Mut und Tapferkeit. Als er gehört hat, wie du hierhergekommen bist, änderte er seine Meinung über dich. Ich soll dich von ihm grüßen. Aber nun komm. Du mußt hungrig wie ein Löwe sein. Iß, und dann gehen wir.«
Kim stellte den Schild bedauernd in die Ecke zurück und setzte sich an die Tafel. Erst als er den ersten Bissen im Mund hatte, merkte er, wie hungrig er war.
Themistokles wartete geduldig, bis Kim fertiggegessen hatte. Dann erhob er sich rasch und bedeutete Kim, ihm zu folgen. Kim stellte verwundert fest, daß alle anderen am Tisch sitzen blieben.
»Kommen deine Männer nicht mit?« fragte er.
»Nein. Der Rat der Weisen empfängt nur mich. Und dich«, fügte der Zauberer hastig hinzu. »Und nun komm.«
Zwei braungekleidete Steppenreiter nahmen sie draußen in Empfang. Ihre Führer geleiteten sie durch einen langen, nur trübe erleuchteten Gang bis zu einer Treppe, die an der Außenseite der Festung hinunterführte und zur Steppe hin offen war, so daß ihnen der kühle Wind und der Geruch des Grases entgegenwehten. Sie stiegen fast bis zum Erdboden hinab, kehrten durch eine niedrige Tür ins Innere Caivallons zurück und gingen einen weiteren niedrigen Gang entlang. Wieder fühlte sich Kim an Morgon erinnert. Er fragte Themistokles danach, der sichtlich mit der Antwort zögerte.
»Es stimmt, Kim«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang bedrückt. »Morgon wurde nach dem Vorbild Caivallons erbaut. Du mußt wissen, daß Boraas lange Zeit beim Steppenvolk gelebt hat, ehe er sich vollends von uns abwandte und die Schattenberge sich hinter ihm schlossen - wie wir glaubten, für immer. Das erklärt wohl auch, warum dieses stolze Volk so verbittert ist.«
»Du meinst, sie geben sich die Schuld an dem Unglück, so wie du?«
Themistokles schüttelte den Kopf. »Nein, Kim. Sie wurden enttäuscht. Boraas war ihr Herrscher. Sie verehrten und liebten ihn, und sie schenkten ihm ihr Vertrauen. Aber er enttäuschte sie. Er betrog und belog sie. Ich glaube, kein Volk hätte es ohne Haß und Bitterkeit verwunden, so hintergangen zu werden.«
Kim hätte gerne noch mehr erfahren, aber sie waren mittlerweile bei einer hohen, geschlossenen Tür angelangt. Ihre beiden Führer traten beiseite. Die Tür schwang lautlos nach innen.
Der Rat der Weisen... Kim hatte sich keine klare Vorstellung gemacht, was darunter zu verstehen sei. Und doch gab es in seinem Unterbewußtsein ein halbfertiges, skizzenhaftes Bild, das mit diesem Begriff zusammenhing. Nun stellte er überrascht fest, daß es sich fast haarscharf mit der Wirklichkeit deckte. Der Raum war groß und leer bis auf einen schweren, runden Tisch in der Mitte, um den sich ein gutes Dutzend Männer versammelt hatte. Die meisten von ihnen waren alt und weißhaarig - Greise, wie man sich weise Männer eben vorzustellen pflegt; aber es gab auch ein paar jüngere darunter, Männer in den besten Jahren ihres Lebens. Zu Kims Erstaunen saß auch Prinz Priwinn in einem der hochlehnigen Stühle.
Verwundert wandte Kim sich zu Themistokles. Der Magier winkte ab, aber durch die Reihe der um den Tisch Versammelten ging ein Murren. Als Kim dem zornigen Blick Priwinns begegnete, stellte er erschrocken fest, daß er anscheinend laut gedacht hatte.