»Unsinn«, zischte Priwinn. »Caivallon...«
»Wird fallen!« unterbrach ihn Kim. »Ich war drüben, Priwinn, ich habe das feindliche Heer gesehen, mit eigenen Augen.«
»Das mag sein«, sagte Harkvan ruhig. »Doch du kannst nicht verstehen, was allein der Gedanke, Caivallon zu verlassen, für unser Volk bedeutet. Caivallon ist nicht irgendein Ort. Es ist unser Zuhause, unser Leben. Wir könnten es niemals aufgeben.«
»Ich glaube, ich verstehe sehr gut, was Ihr meint«, sagte Kim geduldig. »Aber vielleicht ist die einzige Chance, Caivallon zu retten, es aufzugeben; vielleicht nur für kurze Zeit. Boraas' Heer wird Caivallon stürmen, und...«
»Er wird es versuchen«, sagte Priwinn. Aus seiner Stimme sprach mehr Trotz als wirkliche Überzeugung. »Caivallon wurde noch nie erobert, und es wird niemals erobert werden. Wir fürchten uns nicht, Kim. Vor niemandem. Auch nicht vor Boraas und dem Schwarzen Lord.«
Kim seufzte. »Manchmal«, sagte er, »gehört mehr Mut zum Fliehen als zum Ausharren, Priwinn. Ich selbst bin geflohen und weiß, wovon ich spreche. Ihr würdet ein sinnloses Opfer bringen, wenn ihr bleibt.«
»Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?« fragte Priwinn mit zitternder Stimme. »Davonlaufen und uns wie die Hasen jagen lassen?«
»Nein«, antwortete Themistokles an Kims Stelle. »Ihr seid noch jung, Prinz Priwinn. Aber irgendwann werdet Ihr begreifen, daß es kein Zeichen von Feigheit ist, vor einer Gefahr zu fliehen, der man nicht widerstehen kann. Ihr und alle Eure Männer würdet sterben, ohne Boraas' Heer entscheidend aufzuhalten. Nur in Gorywynn seid ihr sicher. Nur gemeinsam haben wir eine Chance.«
»Ihr widersprecht Euch mit jedem Wort«, sagte Harkvan. »Wenn wir Euren und den Worten Eures Begleiters Glauben schenken, so rettet uns auch Gorywynn nicht mehr vor dem Schwarzen Lord. Ihr kennt die Prophezeiung so gut wie ich, Themistokles. Märchenmond wird untergehen, wenn der Schwarze Lord erscheint.« Er sah die Mitglieder des Rates der Weisen der Reihe nach an. »Ich bin euer Herrscher, aber hier, im Rat, zählt meine Stimme nicht mehr als die jedes anderen. Ihr kennt meine Meinung, aber es steht jedem frei, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Deshalb werden wir abstimmen. - Möchte noch jemand etwas sagen?«
Kims Herz begann vor Aufregung zu klopfen. Er blickte in die Gesichter der Männer, und er wußte, welche Entscheidung sie treffen würden. Er gab sich einen Ruck und stand auf.
»Ich möchte noch etwas sagen«, sagte er.
Harkvan nickte. »So sprich.«
Kim holte tief Luft. Er fühlte alle Augen auf sich gerichtet und konnte nicht verhindern, daß ihm die Knie ein wenig zitterten.
»Hohe Herren«, begann er unsicher. »Ich weiß, wie schwer die Entscheidung ist, die Themistokles von Euch verlangt. Ich habe Euer Schloß gesehen und verstehe sehr gut, was es für Euch bedeuten muß, Eure Heimat, Euer Zuhause aufzugeben. Aber ich weiß auch, wie unvergleichbar groß die Gefahr ist, die Euch und allen Bewohnern dieses Landes droht. Prinz Priwinn wird Euch berichtet haben, was ich erlebt habe, so daß ich es nicht wiederholen muß. Als einziger von Euch war ich drüben, auf der anderen Seite der Berge. Ich habe Morgon gesehen, das Reich der Schatten und die Wesen, die dort wohnen. Ich kann Euch nicht sagen, wie groß Boraas' Heer ist. Ich bin kein großer Kriegsherr, und ich verstehe nichts von Taktik. Vielleicht gelingt es Euch wirklich, den Feind zurückzuschlagen. Vielleicht halten Caivallons Mauern sogar dem Ansturm der schwarzen Horden stand - dies mögen andere beurteilen. Aber ich habe das Land dort drüben gesehen, und ich habe mit Menschen gesprochen, die unter Boraas' Herrschaft stehen. Ich habe gesehen, was er aus dem blühenden Land gemacht hat, was aus seinen Wäldern, den Flüssen und Seen geworden ist. Vielleicht könnt Ihr Caivallon halten, aber Ihr werdet Boraas nicht daran hindern können, dieses Land ebenso zu zerstören und mit ihm ganz Märchenmond. Ihr werdet zusehen müssen, wie Boraas Eure Steppen verbrennt, wie seine Reiter Eure Wiesen zertrampeln, wie sich Märchenmonds Wälder in finstere Dschungel und seine Seen in stinkende Tümpel verwandeln. Vor Euren Augen werden sich Tod und Verwesung über das Land breiten. Hunger und Not und Angst werden herrschen, wo jetzt von Glück und Zufriedenheit in den Häusern der Menschen wohnt. Ihr selbst aber werdet Gefangene in Eurem eigenen Schloß sein.« Er schwieg und sah in die Runde. Die Mienen der Männer waren bewegungslos. Nur in Priwinns Augen blitzte es spöttisch.
Mit einem zornigen Ruck drehte Kim sich um, verließ den Raum und warf die Tür hinter sich ins Schloß. Noch ehe er sich selbst über sein unbeherrschtes Handeln klar war, öffnete sich die Tür wieder. Themistokles war ihm gefolgt. Die beiden Wachen geleiteten sie zurück auf ihr Zimmer.
»Ich fürchte, ich habe alles verdorben«, sagte Kim niedergeschlagen. »Aber ich konnte einfach nicht anders. Ich...«
»Deine Rede hat den Rat tief beeindruckt«, ermutigte ihn Themistokles. »Jedes Wort, das du gesagt hast, war richtig.«
»Und was geschieht jetzt?«
»Sie beraten«, antwortete Themistokles. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird. Sicher jedoch länger, als wir warten können«, fügte er hinzu. »Wir brechen noch heute nach Gorywynn auf. Harkvan wird uns die Entscheidung des Rates durch einen Boten übermitteln.«
»Und was glaubst du, wie sie ausfallen wird?«
Themistokles zuckte die Achseln. »Das ist schwer zu sagen. Nicht alle im Rat denken wie Priwinn. Und ich hoffe, daß die Vernunft am Ende siegen wird. Im Grunde hast du nur ausgesprochen, was sie alle bereits gewußt haben.«
Kim trat ans Fenster und blickte auf die friedlich daliegende Steppe hinaus. Ein strahlender Vollmond stand am Himmel und übergoß die Landschaft mit silbernem Licht.
»Wann werden wir Gorywynn erreichen?« fragte er.
»Schon morgen.« Themistokles stellte sich neben ihn. Er deutete auf den Fluß. Wenn man genau hinhörte, konnte man das Rauschen der Wellen bis hier herauf hören. »Harkvan hat mir angeboten, uns ein Floß zur Verfügung zu stellen. Der Weg nach Gorywynn ist weit, aber der Verschwundene Fluß strömt sehr schnell.«
Kim spürte leises Bedauern in sich aufsteigen. Er hätte gern mehr von Caivallon gesehen. Aber er sah ein, daß die Eile begründet war.
Es dauerte nicht lange, und eine Abordnung Steppenreiter erschien, um sie abzuholen.
Sie verließen Caivallon, ohne noch einmal zurückzublicken. Die Reiter schwangen sich in die Sättel ihrer Einhörner. Kim hielt nach Junge Ausschau und entdeckte ihn allein, an einen Pfahl dicht neben dem Tor angebunden. Kim verdrängte seinen aufsteigenden Ärger. Es war nur zu verständlich, daß die Bewohner Caivallons allem, was die Farbe des Feindes trug, Mißtrauen entgegenbrachten.
Schweigend ritten sie durch das Tor, wandten sich nach Süden und näherten sich langsam, aber stetig dem Fluß.
XI
Das Floß bestand aus roh miteinander verknüpften Schilfmatten, und es war so groß, daß die zehn weißen Reiter und die vier Steppenleute, die das Ruder bedienten, auf ihm wie verloren wirkten. Der Boden schaukelte und schwankte, und unter den Hufen der Tiere drang überall schäumendes Wasser durch das Geflecht. Die Ruderer dirigierten das Floß in die Flußmitte, banden sodann das Ruder fest und überließen das Floß der Strömung. Sie nahmen rasch Fahrt auf. Bald huschte das Ufer so schnell an ihnen vorüber, daß seine Konturen verschwammen. Und sie wurden immer noch schneller.
Kim stieg vom Pferd, legte Helm und Schwert auf seinen Schild und balancierte auf dem schwankenden Floß zu Themistokles hinüber, der im vorderen Teil des Floßes im Kreise seiner Begleiter am Boden saß und mit gedämpfter Stimme redete. Er lächelte Kim flüchtig zu und deutete mit einer einladenden Handbewegung neben sich. »Setz dich, Kim. Es ist noch lange bis Gorywynn, und wir können sowieso nichts tun.«