Kim setzte sich. Der Fluß rauschte unter ihnen dahin, und ab und zu überschüttete eine große Bugwelle das Floß mit Wasserzungen und weißem, flockigem Schaum, so daß Kim in Kürze bis auf die Haut durchnäßt war. Sein Blick fiel auf Gorg und Kelhim. Plötzlich fiel ihm ein, daß er die beiden nicht mehr gesehen hatte, seit sie Caivallon betreten hatten. Der Riese wirkte ernst und verschlossen.
Themistokles las Kim seine Frage von den Augen ab. »Gorg wollte unbedingt mitkommen«, sagte er. »Ich hätte es lieber gesehen, wenn er in Caivallon geblieben wäre. Aber er hat darauf bestanden, dich zu begleiten.«
»Mich?«
Gorg bemühte sich zu flüstern, dennoch dröhnte seine Stimme über das ganze Floß. »Natürlich. Glaubst du, ich habe all die Mühe auf mich genommen, um dann bei diesem verstockten Harkvan zu bleiben, während dir wer weiß was passiert?«
»Vielleicht«, meinte Themistokles mit einem wissenden Lächeln, »hat Gorg vergessen, es dir zu erzählen. Er begleitet dich schon, seit du die Taks verlassen hast.«
»Dann... hast du mich die ganze Zeit über beobachtet?«
»Beide«, verbesserte Themistokles. »Gorg und Kelhim trennen sich nie.«
Kim sagte eine Weile gar nichts. Dann stand er unvermittelt auf und trat erst dem Riesen und dann Kelhim, die am Boden saßen, so kräftig in den Hintern, daß ihm noch eine halbe Stunde später der Fuß weh tat.
Die ganze Nacht und noch bis in den frühen Morgen hinein schoß das Floß den Verschwundenen Fluß hinunter. Kim wollte Themistokles fragen, warum der Fluß so hieß, aber er war zu müde. Das ständige Schaukeln und Rauschen der Wellen schläferte ihn ein. Er erwachte erst bei Anbruch der Dämmerung, als ihn Themistokles sanft an der Schulter rüttelte. Kim schrak hoch und blinzelte verwirrt, ehe sich seine Gedanken klärten und er wieder wußte, wo er war.
»Sind wir da?« fragte er.
»Fast.« Themistokles richtete sich auf und zeigte mit der ausgestreckten Hand flußabwärts. »Sieh, Kim. Gorywynn.« Der Fluß beschrieb vor ihnen eine sanfte, langgezogene Windung und mündete dann in einen See. Und am anderen Ufer, etwas zwei bis drei Kilometer voraus, lag Gorywynn. Der Anblick verschlug Kim die Sprache.
Er hatte gewußt, daß Gorywynn schön war. Aber die Wirklichkeit übertraf all seine Erwartungen.
Gorywynn lag auf einer langgestreckten, sichelförmigen Landzunge, die sich wie ein gekrümmter Finger weit in den See hinaus erstreckte. Im ersten Moment mußte Kim an einen gigantischen, schimmernden Edelstein denken, als er das Märchenschloß betrachtete. Gorywynns Türme erhoben sich unendlich weit in den wolkenlosen Himmel, und seine Mauern ragten so hoch über den silbern schimmernden See hinaus, daß ihre Kronen und Gesimse kaum mehr zu erkennen waren. Das Sonnenlicht brach sich in unzähligen blitzenden Reflexen an den gläsernen Wällen der Burg, und wenn Kim den Kopf bewegte, schien ein wahres Feuerwerk aus Farben vor seinen Augen zu explodieren. Weiße Vögel kreisten, winzig klein dort oben, um die wolkenverhangenen Spitzen der Türme, und auf dem See manövrierte eine Flotte kleiner hölzerner Boote mit bunten Segeln.
Das Floß schoß auf der schäumenden Strömung in den See hinaus und nahm Kurs auf die Mauern der Burg.
Kim riß sich von dem phantastischen Anblick los und ging zu seinem Pferd zurück. Die übrigen waren schon aufgesessen und warteten nun mit offensichtlicher Ungeduld, daß das Floß das andere Ufer erreichte. Die Wucht des in den See schießenden Wassers trug sie rasch bis weit über seine Mitte hinaus, erst dann verlor die Strömung allmählich an Kraft. Eine große Zahl der Boote, die auf dem See kreuzten, hatte Kurs auf sie genommen, und als das Floß langsamer wurde, wurden ihnen Seile und Haken zugeworfen und diese an dem Floß befestigt. So legten sie das letzte Stück bis Gorywynn im Schlepp der kleinen, schnellen Boote zurück.
Die gläsernen Mauern der Burg teilten sich vor ihnen, und sie liefen in einen kleinen, nach drei Seiten von flachen Kaianlagen umschlossenen Hafen ein. Kim hatte ein großes Begrüßungskomitee erwartet, aber es standen nur drei weißgekleidete Männer am Ufer, als das Schilffloß anlegte.
Themistokles ritt als erster auf seinem Einhorn an Land. Er wechselte ein paar Worte mit den drei Männern, winkte die anderen an sich vorbei und Kim zu sich heran, als dieser das Floß verließ. »Eigentlich«, sagte er, »hätte ich mir gewünscht, zu deinem Empfang ein großes Fest zu geben. Aber während meiner Abwesenheit sind Dinge geschehen, um die ich mich ohne Aufschub kümmern muß.«
Kim blickte in die Gesichter der drei Männer, mit denen Themistokles gesprochen hatte. Es waren keine guten Nachrichten, die sie ihm überbracht hatten; das war unschwer an ihren Mienen zu erkennen.
»Wir werden heute abend nachholen, wozu jetzt keine Zeit ist«, fügte Themistokles hinzu. »Aber nun muß ich dich für eine Weile allein lassen, Kim. Meine Leute werden sich um dein Roß kümmern.« Er winkte, und einer der Männer griff nach dem Zügel des Rappen und führte ihn weg, sobald Kim aus dem Sattel gestiegen war.
»Bis später«, sagte Themistokles zum Abschied. »Sieh dir in der Zwischenzeit alles an. Gorywynn wird dir gefallen.« Damit lenkte er sein Einhorn herum und sprengte davon.
Kim blickte ihm irritiert nach. Es war sonst nicht Themistokles' Art, sich so flüchtig zu verabschieden. Irgend etwas mußte geschehen sein.
Ein großer dunkler Schatten fiel auf den schimmernden Steinboden zu seinen Füßen. Kim sah auf und erkannte Gorg, den Riesen. Wie immer begleitet von Kelhim. Der Bär hatte sich auf alle viere niedergelassen. Sein Kopf befand sich etwa auf gleicher Höhe mit Kims Gesicht.
»Eigentlich«, brummte Kelhim, »ist er gar nicht so groß, wenn er nicht auf dem schwarzen Klepper sitzt.«
Gorg nickte mit todernstem Gesicht. »Man sollte kaum glauben, daß das Bürschchen es gewagt hat, mich zu treten.« Er legte die Hände auf sein Hinterteil und verzog die Lippen, als spüre er Kims Fußtritt noch immer. »Gestern abend«, fuhr er mit einem Seitenblick auf den Bären fort, »hatte er ja Mut. Aber da war ja auch Themistokles dabei. Jetzt ist er allein, nicht wahr?«
Kim sah sich schnell um. Gorg hatte recht. Mit Themistokles waren auch seine Männer verschwunden, und das letzte Boot glitt soeben durch die schmale Einfahrtsrinne auf den offenen See hinaus. Er war allein mit den beiden ungleichen Freunden.
»Eine gute Gelegenheit, ihm den Tritt heimzuzahlen, nicht?« knurrte Kelhim. Kim wich einen Schritt zurück.
Gorg stellte sich ihm in den Weg und beugte sich drohend herunter. »Nun?« dröhnte er. »Bist du noch immer so mutig wie gestern?«
Kim reckte kampflustig das Kinn. »Noch einmal falle ich nicht auf eure dummen Scherze herein«, sagte er. »Ihr habt mich lange genug an der Nase herumgeführt.«
»Vielleicht sollten wir sie ihm lieber langziehen, statt ihn daran herumzuführen«, brummte Kelhim. Er hob die rechte Tatze, als wollte er sein Vorhaben in die Tat umsetzen.
Kim zeigte sich nicht im mindesten beeindruckt. »Hört mit dem Unsinn auf«, sagte er. »Verratet mir lieber, warum Themistokles es plötzlich so eilig hatte.«
»Das möchte ich selbst gerne wissen«, murmelte Gorg. »Wir wissen genausowenig wie du, Kim. Aber er wird uns schon alles sagen.« Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Nutzen wir die Zeit, Kelhim«, sagte er, »einen alten Freund aufzusuchen. Es ist Jahre her, daß ich Rangarig gesehen habe. Er wird sich über unseren Besuch freuen.«
Kelhim brummte zustimmend. »Kommst du mit?« fragte er Kim.
»Wer ist Rangarig?«
Gorg grinste breit. »Ein guter Freund von uns. Er wird dir gefallen, da bin ich sicher. Außerdem solltest du lieber in unserer Nähe bleiben. Es würde Themistokles gar nicht recht sein, wenn du dich verläufst.«
»Ich kann ganz gut auf mich aufpassen.«
»Das glaube ich dir. Aber Gorywynn ist groß. Man verirrt sich leicht hier, und dann kann es lange dauern, ehe man wieder auf dem rechten Weg ist.«