Выбрать главу

Kim legte den Kopf in den Nacken und blickte an den himmelstürmenden gläsernen Wänden der Burg empor. Gorg hatte recht - Gorywynn war gigantisch. Und er war so gut wie sicher, daß er sich innerhalb kürzester Zeit hoffnungslos verirren würde, wenn er auf eigene Faust loszog. Aber er war es allmählich leid, von den beiden bemuttert zu werden. »Rangarig würde sich freuen, dich kennenzulernen«, betonte Gorg.

Kim überlegte noch einen Moment und zuckte dann die Achseln. »Von mir aus. Aber nur, wenn ihr mir versprecht, mir hinterher mehr von Gorywynn zu zeigen.«

»Du wirst unterwegs schon genug zu sehen kriegen«, brummte der Bär. »Rangarig wohnt auf der anderen Seite des Schlosses. Und nun komm.«

Er drehte sich um und trottete vor Gorg und Kim eine breite, gläserne Treppe hinauf. Dahinter lag ein hoher, heller, sonnendurchfluteter Gang, der auf eine geschwungene Freitreppe hinausführte. Kelhim hatte nicht übertrieben. Kim bekam wirklich gleich eine Menge von Gorywynn zu sehen und war von der Herrlichkeit dessen, was er sah, überwältigt. Gorywynn war wie ein phantastischer, in tausend Facetten schimmernder Edelstein. Man konnte sich kaum vorstellen, daß dieses Wunder von Menschenhand erschaffen worden war. Alles war hier strahlend und hell, und wo das goldene Sonnenlicht nicht hingelangte, sorgten Fackeln und ein Meer brennender Kerzen für ein Farben- und Lichterspiel ohnegleichen. Überhaupt schienen sämtliche Räume, die sie durchquerten, alle Flure und Treppen und Gänge nur aus Farben und Licht zu bestehen.

Und Gorywynn war voller Leben. Überall waren Menschen. Ihrer Kleidung und ihrem Aussehen nach, aber auch aus den Gesprächsfetzen zu schließen, die Kim von Zeit zu Zeit auffing, mußte es sich um Angehörige der verschiedensten Völker handeln. Gorg erklärte ihm, daß all diese Menschen bereits Themistokles' Aufruf gefolgt und aus ihren Heimatländern herbeigeeilt waren, um Gorywynn gegen den erwarteten Ansturm des schwarzen Heeres zu verteidigen. Kims Laune verdüsterte sich, als er dies hörte. Gorywynn war ein Märchenschloß, ein funkelndes Juwel der Freude und des Friedens. Aber der Krieg hatte schon seine Klauen nach ihm ausgestreckt.

Nachdem sie das Schloß in seiner ganzen Länge durchquert hatten, erreichten sie einen großen, von steinernen Mauern umsäumten Hof. Kelhim hieß Gorg und Kim warten und verschwand mit langen Sprüngen in einem hohen, bogenförmigen Durchgang auf der anderen Seite des Hofes. Sekundenlang blieb es still. Dann erscholl hinter dem Tor ein so markerschütterndes Brüllen und Fauchen, daß Kim entsetzt nach einem Fluchtweg ausschaute.

Das Gebrüll wiederholte sich, und Kelhim tauchte - in wilder Flucht, wie es schien - wieder im Eingang auf. Dicht gefolgt von einem riesigen goldenen Drachen.

Kim schrie erschrocken auf, als er sah, wie der schuppige Kopf des Ungeheuers auf Kelhim herunterstieß. Sein Rachen klappte auf und gewährte Kim einen furchterregenden Blick auf eine Doppelreihe armlanger spitzer Zähne. Kelhim wich einem Prankenhieb aus, versuchte hakenschlagend aus der Reichweite des Drachen zu gelangen und purzelte dann in einer mächtigen Staubwolke davon, als der Drache herumfuhr und ihn mit einem Zucken seines gewaltigen Schwanzes von den Füßen fegte.

»Rangarig!« brüllte Gorg hinter ihm so laut, daß Kim schmerzhaft das Gesicht verzog und sich die Ohren zuhielt. Der Drache erstarrte, drehte den mächtigen Schädel und sah erst den Riesen, dann Kim mit seinen schrecklichen roten Augen an. Dumpfes Grollen drang aus seiner Brust, als er sich quer über den Hof heranschob.

»Gorg!« Er schob sich näher, hielt unmittelbar vor Kim an und stupste den Riesen spielerisch vor die Brust. Gorg taumelte zurück, krachte zu Boden und lachte schallend. »Es ist lange her, daß wir einander gesehen haben. Um so mehr freut es mich, euch gleich beide zu treffen. Noch dazu«, fügte er hinzu, während das Maul wie ein Scheunentor vor Kim aufklappte, »wo ihr mir einen so knackigen Leckerbissen mitgebracht habt!«

Kim sprang kreischend zurück und stolperte über Rangarigs Schwanzspitze, die wie eine Schlange vorgezuckt war und sich um seine Beine wand.

»Na, na«, grollte der Drache. »Wer wird denn gleich weglaufen. Ich will dir ja schließlich nicht weh tun. Ein kleiner Haps, und du bist weg...«

Kim schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. Der Drachenschwanz löste sich von seinen Beinen. Aber Kim war starr vor Schreck, so daß er keinen Muskel rühren konnte.

Gorg hielt sich den Bauch vor Lachen.

»Laß gut sein, Rangarig«, grölte er. »Den gleichen Scherz hat Kelhim schon mit ihm getrieben.«

Rangarig fauchte enttäuscht, hob den Kopf und kroch ein paar Meter zurück. Seine Flanken blitzten unter den schräg einfallenden Sonnenstrahlen auf, als wären sie mit flüssigem Gold überschüttet.

»Du bist also Kim«, knurrte er, nachdem Kim sich einigermaßen erfangen und in eine sitzende Position hochgearbeitet hatte. »Der große, prächtige, tapfere, starke, kluge Kim. Tztztz. Themistokles hat viel von dir erzählt. Aber ich muß gestehen, ich habe mir dich größer vorgestellt.«

»Ich... äh... nun...« stotterte Kim. Er schüttelte den Kopf und stand erst einmal ganz auf. »Ich weiß zwar nicht, was Themistokles über mich erzählt hat«, fügte er ärgerlich hinzu, »aber in letzter Zeit glaubt hier wohl jeder, mich zur Zielscheibe seiner albernen Witze machen zu können.«

Rangarig kroch noch ein Stück zurück, schlug mit dem Schwanz auf den Boden und legte das Kinn auf die Vorderfüße. Seine Augen befanden sich nun auf gleicher Höhe mit Kims Gesicht.

»Du bist also Kim«, wiederholte er. »Ich muß sagen, du hast dir einen ungünstigen Augenblick für deinen Besuch ausgesucht. Und ihr auch«, fügte er, zu Gorg und Kelhim gewandt, hinzu. »Ahhhrg, die Zeiten sind schlecht, sehr schlecht. Seit Wochen herrscht große Aufregung, und all die vielen Leute...« Er schüttelte den Kopf, daß seine Schuppen klirrten. »Nirgends hat man mehr seine Ruhe. Überall Menschen und Leute...«

Kim überlegte, welcher Unterschied wohl zwischen Menschen und Leuten bestehen mochte, aber Rangarig redete schon weiter.

»Für heute abend ist eine Versammlung anberaumt. Viele einflußreiche Männer sollen daran teilnehmen, aber ich fürchte, es wird nichts Gutes dabei herauskommen.« Er starrte Kim an, kniff ein Auge zu und murrte: »Hast du damit zu tun, kleiner Held?«

»Ich fürchte ja«, sagte Kim kleinlaut. »Zumindest indirekt. Ich wäre gern mit besseren Nachrichten zu euch gekommen...«

Rangarig seufzte. Es hörte sich an, als plumpsten schwere Steine aus großer Höhe ins Wasser. »Du trägst die Kleidung des Feindes, kleiner Held«, sagte er, »und doch gehörst du zu uns. Wie kommt das?«

»Es war die einzige Möglichkeit, Boraas zu entkommen«, antwortete Kim, dem die dauernden Anspielungen auf seine Kleidung allmählich auf die Nerven gingen.

»Du warst auf der anderen Seite des Schattengebirges?«

»Allerdings. Ich habe Boraas getroffen, und ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, seine Burg zu besichtigen. Einschließlich des Kerkers.«

»Seine Burg?« Rangarig brachte das Kunststück fertig, einen erstaunten Ausdruck auf sein furchterregendes Drachengesicht zu zaubern. »Du warst in Morgon?«

Kim nickte. »Und ich bin daraus entkommen. Aber das ist nicht allein mein Verdienst. Ich hatte Glück.«

»Du bist zu bescheiden. Es gehört mehr als nur Glück dazu, aus Morgon zu entwischen. Niemandem ist das bisher gelungen. Aber ich lese in dir, daß du die Wahrheit sprichst. Erstaunlich. Sehr erstaunlich, in der Tat.«

Kim erschrak. »Du liest meine Gedanken?«

»Nicht direkt«, mischte sich Kelhim ein, der sich inzwischen neben dem Drachen niedergelassen hatte. »Rangarig kann Gedanken ebensowenig lesen wie irgendein anderer. Aber er erkennt, ob jemand die Wahrheit sagt oder ob er lügt.«

»Eine nützliche Gabe«, nickte der Drache. »Hätte ich sie nicht, würde ich dich jetzt glatt für einen Lügner halten. Aber so...« Er machte noch ein paarmal »tztztz«, schüttelte den Kopf und gähnte. »Themistokles scheint nicht übertrieben zu haben, als er von dir erzählte. Er machte sich schwere Vorwürfe, dich in Gefahr gebracht zu haben, nachdem er dich gerufen hatte.«