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»Ich weiß«, sagte Kim. »Aber er kann nichts dafür. Boraas hat mich in eine Falle gelockt.«

»Das glaubst du«, knurrte Rangarig. »Und Themistokles glaubt es wohl auch. Aber es stimmt nicht. Alles kam so, wie es kommen mußte.«

Kim blickte den Drachen scharf an. »Wie meinst du das?«

»Es gibt viele Wege, nach Märchenmond zu gelangen«, antwortete Rangarig ausweichend. »Aber kein Bewohner Märchenmonds - und auch kein Bewohner des Schattenreiches - vermag die Wege zu beeinflussen, die ein Mensch gehen muß, will er zu uns kommen. Es war ein Zufall, daß deine Flugmaschine über der anderen Seite des Schattengebirges abstürzte; ein Zufall, der Boraas sicher zupaß kam. Aber er hatte nichts damit zu tun.«

»Aber dann...«

»Erinnere dich an das, was Themistokles dir zu Anfang sagte«, unterbrach ihn der Drache sanft. »Jeder Mensch muß seinen eigenen Weg nach Märchenmond gehen. Nun, der Weg, den du gegangen bist, war der deine. Du hättest keinen anderen gehen können.«

Kim begriff nicht ganz.

»Du glaubst, das alles... Morgon, meine Flucht, die Begegnung mit dem Schwarzen Lord...«

»Gehörte zu deinem Weg. Ja. Es gibt tausend Wege, zu uns zu gelangen, und alle sind schwer, Kim. Dein Weg mag der schwerste gewesen sein, den je ein Mensch gegangen ist, aber er war nötig. Nur so konntest du begreifen, gegen welche Mächte wir alle zu kämpfen haben, und nur so konnten wir früh genug gewarnt werden.« Er seufzte wieder aus tiefster Drachenbrust. »Aber der Weg, der vor dir liegt, ist noch schwieriger«, prophezeite er. »Du wirst gewaltige Kraft benötigen, Kim. Mehr vielleicht, als ein einzelner aufbringen kann. Doch du kannst ihn meistern, wenn du es wirklich willst.« Damit wandte er sich um und watschelte schnell zu seiner künstlichen Drachenhöhle zurück.

Kim blickte ihm nach, bis er unter dem steinernen Torbogen verschwunden war.

»Wie hat er das gemeint?« fragte er leise.

Kelhim deutete ein Achselzucken an und wiegte den Schädel. »Rangarig ist ein seltsamer Bursche«, sagte er nachdenklich. »Manchmal ahnt er Dinge voraus, die sich hinterher bewahrheiten. Aber jedenfalls liebt er es, in Rätseln zu sprechen. Irgendwer muß ihm gesagt haben, daß Drachen immer in Rätseln sprechen. Fest steht, daß man oft nicht aus ihm klug wird.« Er lachte sein brummiges Bärenlachen. »Aber man muß zugeben, daß immer irgend etwas dran ist an dem, was er sagt. Manchmal entwickeln sich die Dinge andersrum; mitunter wendet sich das Böse zum Guten und umgekehrt. Aber meistens behält er recht.«

Kim runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Kelhims Worte erschienen ihm kaum weniger rätselhaft als die des Drachen. Aber das sagte er nicht.

»Wir sollten uns langsam auf den Rückweg machen«, schlug Gorg vor. Er warf einen Blick zum Himmel. Die Sonne stand im Zenit, es war Mittagszeit. »Ich habe Hunger.« Sie verließen den Hof und gingen denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Menschen, denen sie begegneten, traten respektvoll beiseite oder blieben stehen, wenn sie den Riesen und seinen zottigen Begleiter sahen. Kim blieben auch die Blicke nicht verborgen, die ihm selbst folgten. Er wußte nicht, ob es an seiner auffälligen Kleidung lag oder an dem, was Themistokles über ihn erzählt hatte; auf jeden Fall spürte er deutlich, daß ihm die Bewohner Gorywynns mit Hochachtung begegneten. Seltsamerweise fühlte er sich dabei nicht besonders wohl. Er begann zu begreifen, daß Menschen, denen großer Respekt gezollt wurde, oft sehr einsam waren.

Themistokles war nicht da, als sie zurückkamen. Sie hofften ihn im Thronsaal zu finden, aber auch dort war er nicht. Die Auskunft, die sie erhielten, war unbefriedigend. Themistokles hatte in großer Aufregung den Saal verlassen und war nun schon seit Stunden abwesend. Mehr wußte man nicht. Kelhim brummte etwas Unverständliches und rollte sich auf den sonnenüberfluteten Fliesen vor einem der großen Südfenster zusammen, um, wie er übellaunig erklärte, statt des Mittagessens wenigstens einen Mittagsschlaf zu halten. »Der Bursche hat es gut«, knurrte Gorg. »Und was mache ich?«

Kim dachte sich lächelnd seinen Teil. Er trat ans Fenster und lehnte sich neugierig hinaus. Unter ihm lag ein weiter, sonnenbeschienener Hof. Hellgekleidete Menschen, winzig klein aus dieser Höhe, liefen scheinbar planlos durcheinander. Vor einer der schimmernden gläsernen Mauern war eine Reihe bunter Buden errichtet worden, in denen Händler ihre Waren feilboten und Gaukler ihre Kunststücke vorführten. Auf der Mauerkrone flatterten bunte Wimpel, und von irgendwoher klang leise, lustige Musik, zu der eine helle Kinderstimme sang. Es war ein Bild, wie es friedlicher nicht sein konnte. - Wie lange noch? dachte Kim bedrückt. Wie lange würden diese Menschen noch so unbeschwert lachen und singen können? In nicht mehr allzuferner Zukunft würden die fruchtbaren grünen Hügel jenseits der Mauern schwarz von Boraas' Kriegern sein, im Hof würde Kriegsgeschrei und Waffengeklirr das fröhliche Treiben ablösen, und die gläsernen Mauern würden unter dem Ansturm des schwarzen Heeres bersten.

Seufzend wandte Kim sich ab und begann sich im Thronsaal umzusehen. Der Raum war hoch und hell, mit hohen spitzen Fenstern, die an zwei Seiten die Wand durchbrachen. Der Boden bestand aus schimmernden Mosaikfliesen, und an den Wänden hingen Bilder und Teppiche in scheinbar wahllosem Durcheinander, ohne jedoch unordentlich zu wirken. Eine langgestreckte Tafel, um die sich eine Anzahl hochlehniger Stühle mit geschnitzten Beinen und reichverzierten Armlehnen gruppierte, nahm den größten Teil des Raumes ein. An der Stirnseite, flankiert von zwei steinernen Säulen, auf denen jeweils ein steinerner Rabe hockte, stand ein mächtiger, schmuckloser Sessel, einem Thron nicht unähnlich.

»Was ist das?« fragte Kim.

»Der Thron von Märchenmond«, antwortete Gorg.

Kim trat näher an den Thron heran, um ihn neugierig zu betrachten. Für den Thron eines so riesigen und mächtigen Reiches wie Märchenmond erschien er ihm seltsam schmucklos und schlicht, wenn Kim auch zugeben mußte, daß der Thron in seiner Einfachheit beeindruckend wirkte. »Das also ist Themistokles' Thron«, murmelte er halblaut.

»Nein«, sagte Gorg. »Du hast mich falsch verstanden. Es ist der Thron von Märchenmond.«

»Aber... ich dachte, Themistokles wäre...«

»Unser Herrscher?« Gorg grinste, als hätte Kim soeben etwas ungemein Dummes gesagt. »Das ist er nicht. Er ist der Herr von Gorywynn, aber nicht der König.«

»Aber...« fragte Kim zögernd, »wer sitzt dann auf diesem Thron?«

»Niemand«, antwortete Gorg. »Oder jeder, wie du willst. Es ist ein Stuhl wie jeder andere und nicht einmal besonders bequem. Wer immer sich darauf setzt, ist unser König. Jeder, dem der Sinn danach steht, kann es werden.«

»Ich versteh kein Wort«, sagte Kim verwirrt. »Du meinst, der Herrscherthron von Märchenmond ist nichts als ein leerer Stuhl, und wer will, kann einfach hereinspazieren und ihn in Beschlag nehmen?«

Gorg nickte. »Er kann es und kann es doch nicht«, sagte er. »Märchenmond hat keinen König - oder unzählige, ganz wie du willst. Jeder ist hier König, wenn er es sein will. Und doch sind alle gleich. Denn niemand, auch der Mächtigste nicht, kann über einen anderen befehlen.«

»Du meinst«, sagte Kim ungläubig, »daß hier niemand Befehle erteilt, Gesetze erläßt, Strafen ausspricht...«

»Jeder Befehl wird sinnlos, wenn niemand da ist, dem man befehlen kann«, erklärte Gorg geduldig. »Und wir haben keine Gesetze, Kim. Jedenfalls keine geschriebenen. Hier ist vieles anders als dort, wo du herkommst. Aber vielleicht ist dies der größte Unterschied. Es gibt keine Gesetze und also auch keine Strafen.«

»Aber was ist, wenn jemand ein Verbrechen begeht?« fragte Kim.