»Was für ein Verbrechen?« entgegnete Gorg verwundert. »Warum sollte hier jemand ein Verbrechen begehen? Jedermann hat zu essen und zu trinken. Das Land ist groß, unendlich groß. Wenn einem seine Nachbarn nicht gefallen, so kann er fortziehen und sich irgendwo niederlassen, wo er allein und ungestört ist. Und wenn einer hungert, so kann er seinen Nächsten um ein Stück Brot und etwas Wein bitten, und er wird es bekommen. Ich weiß, daß dort, wo du herkommst, viele Verbrechen geschehen. Und warum werden sie begangen? Aus Haß, Neid oder Habgier. - Haß ist bei uns nicht bekannt, Kim, und es gibt keinen Neid, weil alle gleich sind, keiner mehr besitzt als der andere und niemand weniger, als er braucht. Und deshalb brauchen wir auch keinen Herrscher.«
Kim starrte nachdenklich den leeren Thron an. Ein leerer Thron - gab es ein besseres Symbol für dieses Land, in dem jedermann König war und in dem es trotzdem keinen gab, der einen anderen beherrschte?
»Darf ich... darf ich mich einmal darauf setzen?« fragte er. Gorg lächelte. »Warum nicht?«
Kim setzte langsam Schritt vor Schritt, ging die wenigen Stufen bis zum Thron hinauf und nahm zögernd darauf Platz. Das Holz fühlte sich kühl und hart an. Er lehnte sich zurück, rutschte in eine bequemere Lage und legte die Hände auf die glatten, schmucklosen Armstützen. Ein seltsames, schwer zu beschreibendes Gefühl überkam ihn, ein Schauer, doch kein sehr wohliger. Ein Thron... Märchenmonds Thron... ja, Gorg hatte recht, es war ein Stuhl wie jeder andere, aber gerade das war es, was ihn zu etwas Besonderem machte. Kim schloß die Augen. Er dachte an den schwarzen Thron in der schwarzen Feste Morgon, und der Gedanke ließ ihn schaudern. Vielleicht würde in nicht allzuferner Zeit statt dieses einfachen Stuhles auch hier ein schwarzer, böser Tyrannenthron stehen.
Das Geräusch vieler Schritte drang an sein Ohr. Als er die Augen öffnete, sah er Themistokles, der in Begleitung eines guten Dutzends verschiedenartig gekleideter Männer den Saal betreten hatte und in der Tür stehengeblieben war. Ein väterliches Lächeln flog über sein Gesicht, als er Kim auf dem Thron erblickte.
»Ich sehe«, sagte er, »daß Gorg dir bereits alles gezeigt hat.« Kim nickte verlegen und wollte aufstehen, aber Themistokles hielt ihn mit einer knappen Geste zurück. »Nein, bleib ruhig, wo du bist.«
Kim schüttelte den Kopf, sprang auf und lief die Stufen vom Thron hinunter.
Kelhim erwachte mit unwilligem Brummen, stemmte sich gähnend hoch und schüttelte das mächtige Haupt. »Schon Essenszeit?« knurrte er.
»Noch nicht, alter Freund«, sagte Themistokles bedauernd. »Aber es ist gut, daß ihr schon hier seid - alle drei«, fügte er mit einem Seitenblick auf Kim und den Riesen hinzu. Er wies mit einer einladenden Geste auf die Tafel. »Nehmt Platz. Es gibt ernste Dinge zu bereden.«
Kim setzte sich auf einen freien Stuhl. Themistokles nahm am Ehrenplatz an der Stirnseite Platz, während sich seine Begleiter auf die übrigen Stühle verteilten.
»Ich muß mich noch einmal für die hastige Einberufung dieser Beratung entschuldigen«, begann Themistokles. »Aber es sind... Dinge geschehen, die keinen Aufschub dulden.« Er brach ab und wandte den Kopf, als von der westlichen Fensterfront ein polterndes, scharrendes Geräusch hereindrang. Auch Kim drehte sich um und schaute neugierig zu den Fenstern hinüber. Ein riesiges, rotglühendes Auge lugte herein. Ein Wasserfall aus flüssigem Gold schien vor den Fenstern herabzustürzen, als Rangarig, der goldene Drache, sich auf dem viel zu kleinen Balkon draußen niederließ. Der Stein knarrte verdächtig, aber er hielt. Rangarig seufzte aus tiefer Brust, streckte den Kopf durch das mittlere der drei großen spitzen Fenster herein, während er sich mit den Vorderfüßen auf den Brüstungen der beiden anderen aufstützte. »Rangarig«, begrüßte Themistokles den Drachen. »Ich danke dir, daß du gekommen bist. Verzeih die Unbequemlichkeiten, die wir dir bereiten müssen.«
Rangarig lachte ein gedämpftes, grollendes Drachenlachen, das die ganze Tafel erbeben ließ. Ein kleiner Stein löste sich aus der Decke und zerbarst auf dem Boden zu unzähligen winzigen Splittern.
Themistokles runzelte in sanftem Tadel die Stirn. »Gemach, Rangarig, gemach«, sagte er. »Bedenke, daß dies ein Haus für Menschen ist, nicht für Drachen.«
Rangarig lachte wieder, diesmal ein bißchen lauter. Durch die Erschütterung fiel ein Bild von der Wand und zerbrach krachend in Stücke.
Themistokles seufzte. »Du bist wahrscheinlich das einzige Wesen auf der Welt, das imstande ist, seine Feinde im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode zu lachen«, murmelte er, wohlweislich so leise, daß der Drache es nicht hören konnte. Er schaute zur Decke hinauf, in der sich ein schmaler, gezackter Riß gebildet hatte, und seufzte wieder.
»Beginnen wir«, sagte er, um endlich zur Sache zu kommen. »Das, worum es geht, ist ernst genug.« Er sah die Anwesenden der Reihe nach an. Sein Blick fiel auf Kim und verweilte etwas länger auf ihm. »Der Feind war während unserer Abwesenheit nicht müßig«, fuhr er fort. »Unsere Boten berichten, daß ein großer Heereszug das Gebirge verlassen hat und sich auf dem Weg nach Süden befindet.«
Kim erschrak. Er hatte - wie sie alle - nicht damit gerechnet, daß Boraas noch lange untätig in seinem Versteck in den Bergen ausharren würde. Aber er hatte gehofft, daß ihnen wenigstens noch ein paar Wochen Gnadenfrist vergönnt seien. Diese Hoffnung war nun zunichte.
»Die Männer, die sich hier versammelt haben«, fuhr Themistokles, zu Kim gewandt, fort, »sind die Abgesandten der verschiedenen Länder und Völker Märchenmonds. Wir müssen beraten und einen Ausweg finden.«
»Wie viele Reiter hat Boraas ausgeschickt?« fragte Kim.
Themistokles zögerte mit der Antwort. »Viele«, sagte er dann. »Zu viele, um sie aufhalten zu können. Weit über fünftausend, wenn die Berichte unserer Kundschafter stimmen.«
Fünftausend Reiter! Und diese waren nur ein Bruchteil von Boraas' Streitkraft...
»Was das bedeutet, brauche ich wohl nicht zu erklären«, fügte Themistokles hinzu. »Der Hauptangriff steht unmittelbar bevor. Das Reiterheer hat bereits den Verschwundenen Fluß überschritten und rückt unaufhaltsam weiter nach Süden vor.«
»Und was heißt das?« fragte Kim.
»Das Reiterheer wird Gorywynn weitläufig umgehen und uns den Fluchtweg nach Süden abschneiden«, mischte sich ein schlanker, bärtiger Mann in der grünen Kleidung der Waldbewohner ein. »Und sowie es Stellung bezogen hat, wird der Rest der Armee aus den Bergen hervorbrechen und uns direkt angreifen.«
»Aber man muß sie zurückschlagen!«
»Das können wir nicht«, sagte Themistokles betrübt. »Du selbst, Kim, hast uns berichtet, wie mächtig Boraas' Armee ist. Schon diese fünftausend Reiter stellen eine größere Streitmacht dar, als Märchenmond aufbringen könnte.«
»Und wenn wir die Steppenreiter...«
Themistokles schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Caivallon liegt unmittelbar auf der feindlichen Einfallslinie«, sagte er. »Vielleicht ist ein Angriff geplant, vielleicht verschonen die Schwarzen das Steppenschloß auch. Auf jeden Fall können wir nicht mehr mit Hilfe von dort rechnen.«
»Aber was können wir denn überhaupt tun?«
Themistokles senkte den Blick. »Nichts«, sagte er so leise, daß es kaum zu verstehen war. »Jedenfalls nicht viel mehr, als abzuwarten und uns auf den Angriff vorzubereiten.«
»Aber ihr könnt doch nicht die Hände in den Schoß legen und zusehen, wie sich das Unheil über euch zusammenbraut!« rief Kim fassungslos. »Ihr müßt irgend etwas tun! Trommelt eure Verbündeten zusammen und stellt eine Armee auf. Schlagt dieses Reiterheer zurück. Ich habe ein Heer von Männern gesehen, als ich durch Gorywynn gestreift bin!«
»Das stimmt. Aber Boraas wartet nur drauf, daß wir die Truppen von Gorywynn abziehen.«
»Noch mehr aber baut er darauf, daß ihr untätig zuseht, wie die Falle zuschnappt!« sagte Kim mit vor Erregung zitternder Stimme. »Seht ihr denn nicht, was Boraas im Sinn hat? Er schließt euch ein! Er zieht einen Belagerungsring um das ganze Schloß! Er braucht nicht einmal anzugreifen, wenn ihr nichts unternehmt. Er muß seine Armee einfach nur aufmarschieren lassen und warten, bis Hunger und Durst euch zwingen, kampflos aufzugeben!«