»Gorywynn ist groß«, widersprach Themistokles. »Und wir sind auf eine Belagerung gut vorbereitet. Wir können Jahre aushalten.«
»Und Boraas kann Jahre warten. Du weißt, daß er in der stärkeren Position ist.«
Themistokles seufzte. »Ich weiß es«, murmelte er. »Aber wir sind kein Volk von Kämpfern, ich habe es dir schon einmal gesagt, Kim. Märchenmond ist ein Land des Friedens, nicht des Krieges. Würden wir deinem Vorschlag folgen und dem schwarzen Heer auf offenem Feld begegnen, wir würden jämmerlich verlieren, selbst bei einer zahlenmäßigen Überlegenheit. Nein, Kim. Wir haben diesen Krieg nicht gewollt, und wir können ihn nicht gewinnen.«
»Wir haben noch Zeit«, beharrte Kim. »Es wird noch eine Weile dauern, ehe Boraas' Heer vor unseren Toren steht. Gorywynns Mauern sind mächtig, und es wird ihm schwerfallen, sie zu stürmen. Vielleicht läßt er sich wirklich auf eine Belagerung ein. Aber selbst dann haben wir eine Chance. Wir können eine wirksame Verteidigung aufstellen...«
Themistokles hob abwehrend beide Hände.
»Es hat keinen Zweck, Kim«, sagte er. »Vielleicht hätte ich es dir gleich sagen sollen, aber ich dachte, du wüßtest es bereits. Wir sind hier nicht zusammengekommen, um Kriegsrat zu halten. Der Sinn unserer Beratung ist, einen Vorschlag auszuarbeiten, den Boraas akzeptieren kann. Wir wissen, daß wir keine Chance haben, aber wir wollen das Volk schonen.«
»Ihr wollt... kapitulieren?« fragte Kim ungläubig.
Themistokles nickte. »So nennt ihr es wohl bei euch.«
»Aber... ihr... ihr könnt doch nicht kampflos aufgeben«, rief Kim. »Ihr habt das Reich der Schatten nicht gesehen! Aber ich! Du hast gehört, Themistokles, was ich vor dem Rat der Weisen gesagt habe. Ihr wißt nicht, was Boraas aus eurem schönen Land und seinen glücklichen Bewohnern machen wird! Nichts wird mehr so sein, wie es jetzt ist! Ihr...«
Wieder unterbrach ihn Themistokles mit einer begütigenden Geste. »Doch, Kim«, sagte er. »Wir wissen es. Aber auch wenn wir uns widersetzen, wird Märchenmond zerstört. Der Unterschied liegt nur in ein paar Wochen. Und in der Anzahl der Toten, die ein sinnloser Kampf kostet.«
»Aber er ist nicht sinnlos!« begehrte Kim auf. »Ich kann euch helfen! Ich kann Waffen konstruieren! Dort, wo ich herkomme, gibt es schreckliche Waffen...«
»Ja, Kim, du sagst es selbst. Schreckliche Waffen. Aber auch wenn wir sie einsetzen wollten - eure Waffen würden hier nicht funktionieren. Vielleicht würden sie sich sogar gegen uns selbst wenden. Und angenommen, wir würden diesen Krieg auf solche Weise gewinnen - Märchenmond wäre hinterher nicht mehr, was es war. Es würde zu einem Ebenbild deiner Welt, Kim. Und irgendwann würde ein neuer Boraas aufstehen, und er würde uns mit den gleichen Waffen angreifen, die du uns gebracht hast. Vielleicht würden wir ihn wieder schlagen, aber wir müßten neue Waffen entwickeln, stärkere und immer stärkere, und so würde es weitergehen, bis diese Welt völlig zerstört ist. Du weißt, daß ich die Wahrheit spreche. Du stammst aus einer Welt, die diesen Weg beschritten hat, schon vor langer Zeit. - Boraas mag uns besiegen, und er wird vielleicht auch Märchenmond zu einem Reich des Schreckens machen, so, wie er das Schattenreich verwandelte. Aber warst nicht du es, der mir von Ado und seinem Vater, dem Tümpelkönig, erzählte? Hast du nicht selbst erlebt, daß sogar dort drüben, inmitten all des Schreckens, noch Wesen leben, die hoffen? Irgendwann, Kim, vielleicht in hundert, vielleicht in tausend oder zehntausend Jahren wird Boraas' Herrschaft enden, und aus den Trümmern seines Reiches wird ein neues Märchenmond erstehen. Es ist nicht das erste Mal in diesem ewigen Ringen, daß das Böse die Macht an sich reißt. Aber es wäre auch nicht das erste Mal, daß wir am Ende siegen. Gingen wir deinen Weg, könnten wir Boraas vielleicht sogar vernichten, aber wir würden uns selbst unsere Zukunft stehlen. Nie wieder würde Märchenmond zu dem werden, was es ist und war.«
Er hielt erschöpft inne. Lange Zeit sprach niemand, und auch Kim sagte all die Dinge, die ihm während Themistokles' Rede durch den Kopf gegangen waren, nicht. Es wollte einfach nicht in seinen Kopf, daß Themistokles jetzt resignierte. Es ging hier doch um einen Kampf ums Überleben! Dieses Zaudern, die vermeintliche Schwäche und Unsicherheit paßten nicht zu dem Bild, das Kim sich von dem alten Zauberer gemacht hatte. Fast, so dachte er erschrocken, fast konnte er da ja Boraas noch besser verstehen...
Rangarig brach schließlich das Schweigen.
»Wohl gesprochen, Herr von Gorywynn«, sagte der goldene Drache. »Doch bedenke, daß es Zeiten gibt, in denen man mit alten Traditionen brechen muß.«
Themistokles sah den Drachen nachdenklich an. »Wie meinst du das, Rangarig?«
Rangarig wiegte den Schädel, daß die Säulen rechts und links des Fensters knirschten und Staub von der Decke rieselte. »Unser junger Freund hat nicht in allem unrecht, was er sagt, Themistokles. Es wäre unklug, vorschnell aufzugeben.«
»Wenn du einen Ausweg weißt«, sagte Themistokles, »dann rede.«
»Wüßte ich einen, hätte ich ihn dir bereits genannt«, antwortete der Drache. »Aber es gibt ein Wissen, das über dem deinen und dem meinen steht. Befrage das Orakel.«
»Das Orakel?« fragte Kim, der seine Neugierde nicht bezähmen konnte. »Was ist das?«
Themistokles antwortete nicht sofort. Er drehte den Kopf und blickte nachdenklich den leeren Thron an.
»Ein Märchen«, murmelte er schließlich. »Eine alte Sage, mehr nicht. Es heißt, daß die beiden steinernen Raben sprechen werden, wenn das Land in großer Not ist...«
»Eine Sage? So wie der Schwarze Lord?«
Kim wollte noch mehr fragen, aber in diesem Moment geschah etwas Seltsames.
Ein heller, schwingender Ton, als würde irgendwo ein gigantisches Glas angeschlagen, erfüllte den Raum, und eine eigenartige, außerirdische Kälte begann in Kim emporzukriechen. Er wollte die Hand heben, aber es ging nicht. Irgend etwas, eine unsichtbare und unwiderstehliche Gewalt schien nach seinem Körper zu greifen und seinen Willen auszuschalten. Wie eine Marionette, an deren Fäden ein unsichtbarer Spieler zog, erhob er sich von seinem Stuhl und ging an der staunenden Tafelrunde vorbei auf den leeren Thron zu.
XII
Atemlose Stille breitete sich im Saal aus, als Kim mit langsamen, roboterhaften Schritten auf den Thron zuging. Die beiden steinernen Säulen rechts und links des Thronsessels begannen in einem kalten, weißen Feuer zu glühen, und der schwingende Ton wurde lauter und durchdringender, bis er jede einzelne Faser seines Körpers zum Schwingen gebracht hatte. Ein kribbelndes, unangenehmes Gefühl breitete sich, von den Zehen und Fingerspitzen ausgehend, in seinem Körper aus. Das Bild vor seinen Augen verschwamm, überzog sich mit grauen Nebelschwaden und schrumpfte zusammen, bis er beinah blind war und nur noch einen winzigen hellen Fleck vor sich erkannte, in dessen Zentrum der leere Thron stand. Kim ging darauf zu, ließ sich auf dem harten Holz nieder und lehnte sich zurück. Der Stuhl fühlte sich diesmal nicht kalt an, sondern warm und weich, und für einen Moment durchströmte Kim ein Gefühl der Macht, wie er es nie zuvor in seinem Leben gekannt hatte. Für einen kurzen Augenblick, das spürte er plötzlich, war dieser Thron mehr als ein leerer Sessel, er war wirklich der Thron von Märchenmond, von dem aus dieses ganze gewaltige Reich regiert wurde.
Das kalte Feuer der steinernen Säulen zu beiden Seiten begann stärker zu glühen. Und dann hörte Kim - und er war von allen Anwesenden wohl am meisten erstaunt - seine eigene Stimme Worte sprechen, die ihm ein höherer, stärkerer Wille als der seine eingab.