»Noch niemals zuvor, seit die Tore der Zeit«,
begann er mit fester, ruhiger Stimme,
»geöffnet, das Leben bereit,
war größer die Not und mehr der Gefahr
und Märchenmonds Menschen der Hilfe bar.
Boraas der Schwarze, Herr der Nacht,
setzt an nun zum Sturm, das Grauen erwacht.
Ob Kämpfer, ob Denker, ob Mensch oder Tier,
niemand bringt Rettung, nur einer ist hier.
Ein Knabe, noch jung, doch Stärke im Herzen,
kam über die Zeit, erreicht euch mit Schmerzen.
Weit war sein Weg und steinig der Pfad,
der her ihn geführt, zu bringen euch Rat.
Nur er und kein andrer, kein Wesen auf Erden
kann jetzt noch euch Menschen zur Rettung werden.
Nur er kennt den Schlüssel, den Weg nach oben,
zum Herrscher, dem König der Regenbogen.«
Kim sank erschöpft zurück. Sein Kopf fühlte sich leer an, und in seinem Denken war irgend etwas Fremdes, ein Gefühl, als hätte er etwas verloren, als wäre da für wenige, flüchtige Augenblicke die Berührung einer großen, sanften Hand gewesen, die nun verschwunden war und eine schmerzliche Leere hinterlassen hatte. Er öffnete die Augen, verkrampfte die Hände um die Armlehnen und sank mit einem schwachen Seufzer zurück. Nicht nur seine Gedanken, auch sein Körper war leer und wie ausgelaugt, als hätten die wenigen Worte, die er gesprochen hatte, seine ganze Kraft aufgezehrt. Er sah, wie das sanfte Glühen der Steinsäulen erlosch und Themistokles aus seiner Starre erwachte und mit besorgter Miene auf ihn zueilte.
Kim richtete sich mühsam auf und schob Themistokles' hilfreich ausgestreckte Hand beiseite. »Es geht schon«, sagte er mit schwacher Stimme. Er stand auf, machte einen Schritt, um Themistokles zu beweisen, daß er aus eigener Kraft gehen konnte, und wäre der Länge nach hingefallen, wenn Themistokles ihn nicht mit einer geistesgegenwärtigen Bewegung aufgefangen hätte. Der Raum begann sich um ihn zu drehen. Ihm schwindelte, und sein Herz hämmerte mit einem Mal so heftig und schnell, daß er die Schläge bis in die Fingerspitzen zu spüren glaubte. Er merkte kaum, wie Themistokles ihn hochhob und zum Tisch zurücktrug, um ihn behutsam auf einer der Stühle zu setzen.
Aber der Schwächeanfall ging so rasch vorüber, wie er gekommen war. Die Nebel vor Kims Augen lichteten sich, und als er aufblickte, sah er in die Gesichter der anderen, die sich über ihn beugten und besorgt auf ihn herunterschauten.
»Was... war das?« murmelte er verwirrt.
»Das Orakel«, sagte Themistokles. »Es sprach aus deinem Mund.« Er schüttelte ratlos den Kopf. Dann warf er Rangarig einen scharfen Blick zu. »Hast du damit zu tun?«
»Nein, Themistokles. Auch mir sind die Geheimnisse des Orakels verschlossen. Aber manchmal sehe ich den Weg, der zu gehen ist, klarer als ihr.«
Themistokles starrte nachdenklich vor sich hin. »Der König der Regenbogen...« murmelte er.
»Was bedeutet das alles?« fragte Kim. »Ich habe die Worte zwar gesprochen, aber ich verstehe sie nicht.«
»Niemand versteht sie, Kim«, erklärte Themistokles betrübt. »Aber wie es scheint, leben wir in einer Zeit der Wunder, der sagenhaften Erscheinungen. Der König der Regenbogen gehört auch dazu. Niemand weiß etwas über ihn. Es heißt, er residiert am Ende der Zeit, in einer herrlichen Burg aus Licht und Farben, noch ungleich prächtiger als Gorywynn, und er soll unvorstellbar mächtig und weise sein. Aber kein Bewohner Märchenmonds hat ihn jemals gesehen.«
»Aber der Weg zu ihm ist bekannt«, warf der Drache ein. »Er ist weit, und noch keinem ist es gelungen, ihn bis zum Ende zu gehen.«
Themistokles atmete hörbar ein. »Schweig, Rangarig. Du weißt nicht, was du sprichst.«
»Warum nicht?« fragte Kim. Plötzlich hatte er das sichere Gefühl, daß Themistokles ihm etwas verschwieg.
»Es ist unmöglich«, sagte der Zauberer. »Rangarig sollte es besser wissen. Nur ein kurzes Stück des Weges zur Regenbogenburg ist bekannt, und schon auf diesem Stück lauern mehr Gefahren, als ein einzelner Mensch zu meistern imstande ist.«
»Beschreibe sie mir«, verlangte Kim.
Themistokles runzelte unwillig die Stirn. »Du beginnst dich zu überschätzen, Kim«, sagte er.
»Ich halte mich nur an die Worte des Orakels.«
Themistokles schüttelte den Kopf. »Das Orakel hat lange Zeit geschwiegen«, sagte er, »so lange, daß sich niemand mehr daran erinnern kann, wann es das letzte Mal zu den Menschen von Märchenmond gesprochen hat, und ich muß gestehen, daß auch ich schon begonnen habe, den Glauben daran zu verlieren. Aber wir wissen, daß es oft in Rätseln und Gleichnissen gesprochen hat. Was es sagt, ist nicht immer seinem vordergründigen Sinn nach zu verstehen. Und es war mit keinem Wort die Rede davon, daß du die Reise dorthin antreten solltest, Kim. Du trägst den Schlüssel zur Rettung in dir, aber dieser Schlüssel kann ein Gedanke sein, ein Wort, das du im rechten Moment sprichst, irgend etwas... Dich übereilt gehen zu lassen hieße, dich in den sicheren Tod zu schicken. Der Weg zum Ende der Welt ist weit und voll bekannter und unbekannter Gefahren.«
»Der Weg, auf dem ich herkam, war auch nicht ganz harmlos«, erinnerte Kim.
»Trotzdem.« Themistokles schüttelte störrisch den Kopf. »Du müßtest durch die Klamm der Seelen und über den Verschwundenen Fluß, dort wo er am tiefsten und reißendsten ist. Und selbst wenn du diese Gefahren überwändest, hättest du es noch nicht geschafft. Der Weg führt weiter durch die Eisige Einöde, vorbei am Schloß Weltende - und dann wärst du noch nicht am Ziel. Niemand weiß, was dich dahinter erwartet, weil noch keiner, der so weit kam, jemals zurückgekehrt ist.«
»Aber es ist unsere einzige Chance.«
»Mag sein. Aber das Orakel in Ehren - ich lasse es nicht zu, daß du gehst. Das Risiko ist zu groß.« Themistokles straffte sich und sagte: »Niemals«, in einem Ton, der keinen Widerspruch mehr duldete.
Kim wandte sich hilfesuchend an Rangarig. Aber auch der goldene Drache senkte nur traurig das Haupt. »Themistokles hat recht«, grollte er. »Die Worte des Orakels sind manchmal schwer zu verstehen.«
»Ich verstehe sie inzwischen recht gut.«
Rangarig fauchte leise. »Viele Offenbarungen des Orakels wurden niemals verstanden. Die weisesten Männer sind daran gescheitert - weisere als du einer bist, kleiner Held«, sagte er spöttisch. »Der Weg zum Ende der Welt ist vielen großen Helden zum Verhängnis geworden. Die meisten kamen über die Klamm der Seelen nicht hinaus, und die wenigen, denen es gelang, sie zu überwinden und sich dem Verschwundenen Fluß anzuvertrauen, wurden nie mehr gesehen.«
»Die Klamm der Seelen«, fragte Kim, »was ist das?«
»Eine Schlucht, tiefer als irgendeine andere«, antwortete Themistokles. »Sie ist so tief, daß kein Sonnenstrahl ihren Grund erreicht. Keine Brücke führt hinüber. In dieser Schlucht haust ein schreckliches Ungeheuer...«
»Soooo schrecklich nun auch wieder nicht«, ließ sich Rangarig vernehmen.
Themistokles lächelte nachsichtig, wurde aber gleich wieder ernst. »Auf dem Grund dieser Schlucht«, fuhr er fort, »haust der Tatzelwurm. Noch kein Mensch hat ihn überwunden, und nur wenigen ist es gelungen, ihn zu überlisten.«
»Was ist ein... Tatzelwurm?«
»Ein mißratener Vetter von mir«, fauchte Rangarig.
»Ein Drache«, sagte Themistokles, ohne auf die Bemerkung des goldenen Drachen einzugehen. »Aber anders als Rangarig. Er ist riesig, das schrecklichste Ungeheuer, das jemals im Lande Märchenmond geboren wurde. Nicht einmal Boraas würde es wagen, sich mit ihm zu messen.«