»Boraas nicht«, murrte Rangarig, »aber...«
»Nein, Rangarig«, sagte Themistokles bestimmt. »Ich weiß, daß du dein Leben dafür einsetzen würdest, uns zu retten. Aber dein Opfer wäre sinnlos. Nicht einer unter uns zweifelt an deinem Mut und deiner Stärke, doch nicht einmal du könntest den Tatzelwurm besiegen. Glaube mir, alter Freund - wir werden einen anderen Weg finden.«
Rangarig schwieg beleidigt. Themistokles ging zu seinem Stuhl zurück und ließ sich seufzend darauf nieder.
»Ich kann dich nicht gehen lassen, Kim, so leid es mir tut. Das ist mein letztes Wort.«
Vier Tage vergingen, in denen Kim Themistokles immer wieder bestürmte, ohne an dessen unnachgiebigem Nein etwas ändern zu können. Er sah Themistokles selten. Der Zauberer eilte von einer wichtigen Beratung zur anderen, und Kim vertrieb sich die Zeit damit, die Märchenburg Gorywynn etwas gründlicher zu erforschen. Fast immer begleiteten ihn Gorg und Kelhim, und wenn er sich zu Anfang auch etwas gegängelt vorkam, so war er im Grunde doch froh, in dem riesigen, voll fremder Menschen und wunderbarer Dinge steckenden Kristallschloß nicht allein zu sein. Auch nach diesen vier Tagen hatte er Gorywynn nur zu einem kleinen Teil kennengelernt. Das Schloß war einfach zu groß, zu weitläufig. Vermutlich hätte er Jahre gebraucht, es ganz zu erforschen. Er verbrachte viel Zeit bei Rangarig, dem goldenen Drachen, halb in der Hoffnung, von ihm mehr über die Klamm der Seelen und ihren schrecklichen Bewohner zu erfahren. Aber Rangarig schwieg beharrlich. Schließlich verlor Kim die Geduld und warf dem Drachen vor, er sei wohl zu feige, um wirklich Farbe zu bekennen. Rangarig fauchte ein bißchen und erklärte dann, er würde Kim helfen, sobald er selbst bereit sei - und keinen Augenblick früher. Kim dachte lange über diese Bemerkung nach, ohne ihren Sinn wirklich zu verstehen.
Seine ruhelose Wanderung führte ihn am Nachmittag des vierten Tages bis auf die Spitze des höchsten Turmes. Es war eine lange und anstrengende Kletterei, und auch Kelhim, der ihn begleitete und auf seinen im Vergleich zu seinem Körper kurzen, plumpen Beinen die unzähligen Stufen hinauftappte, war am Ende erschöpft und außer Atem. Aber es hatte sich gelohnt. Der Ausblick, der sich ihnen bot, entschädigte sie reichlich für die mühsame Kletterei. Eine brusthohe Mauer aus hellblauem Kristallglas umgab die offene Plattform des Turmes. Von hier oben wirkten die mächtigen Wälle und Schutzanlagen Gorywynns wie Spielzeug. Der silberne See lag spiegelglatt unter ihnen, und selbst die reißenden Fluten des Verschwundenen Flusses schienen von hier aus friedlich und sanft.
Kim stützte sich mit den Ellbogen auf der Brüstung auf und beugte sich vor. Die geschliffene Flanke des Turmes stürzte unter ihm etwa zweihundert Meter in die Tiefe und verschmolz mit den silbernen Fluten des Sees. Ein Möwenschwarm kreiste über dem Wasser. Sein Geschrei war bis hierherauf zu hören, und ab und zu stieß einer der weißen Vögel pfeilschnell hinab, um sich einen Leckerbissen aus dem See zu fischen.
Kim blinzelte in die Sonne und drehte dann den Kopf, um zur Flußmündung hinüberzublicken.
»Wie kommt der Verschwundene Fluß eigentlich zu seinem Namen?« fragte er.
Kelhim legte neben ihm den Kopf auf die gläserne Brüstung und brummte leise. »Sieh dir einmal den See an. Fällt dir nichts auf?«
Kim schaute aufmerksam auf die still daliegende Fläche des Sees hinunter, konnte aber beim besten Willen nichts Auffälliges entdecken.
»Nein«, sagte er.
»Er hat keinen Abfluß.«
Kim sah den Bären verdutzt an. Kelhim hatte recht. Der See hatte tatsächlich keinen Abfluß. Aber irgendwo mußten die Wassermassen, die der Verschwundene Fluß mit seiner gewaltigen Strömung hereintrug, doch bleiben!
»Der Fluß«, erklärte Kelhim, nachdem er Kim eine Weile hatte herumrätseln lassen, »ergießt sich in den See und fließt von da an unterirdisch weiter. Niemand hat ihn je erforscht, aber der Strömung nach zu schließen, muß es ein gewaltiges unterirdisches Höhlensystem geben, durch das er weiter nach Westen fließt. Erst nach einigen tausend Meilen tritt er wieder zutage, und auch dann nur für ein kurzes Stück. Er fließt unter der Klamm der Seelen hindurch. An ihrem Ende, nahe der Höhle des Tatzelwurms, befindet sich ein kleiner See. Von dort verläuft das Flußbett wieder unterirdisch weiter.« Er blinzelte Kim mit seinem einzigen Auge zu. »Weißt du nun, was du wissen wolltest?«
Kim senkte verlegen den Blick. Er merkte wohl, daß ihn Kelhim durchschaut hatte.
»Ich weiß, woran du denkst«, fuhr der Bär sehr ernst fort. »Aber du solltest den Plan fallenlassen. Du kannst nicht auf eigene Faust losziehen. Selbst wenn ein Wunder geschähe und du Gorywynn verlassen könntest, ohne erwischt zu werden, würdest du dich hoffnungslos verirren, lange bevor du die Klamm der Seelen erreichst. Und du würdest niemanden finden, der dir den Weg weist. Die Menschen fürchten die Schlucht und meiden ihre Umgebung. Außerdem«, fügte er hinzu, »sind da noch die schwarzen Reiter. Du bist ihnen einmal entkommen. Ob es dir ein zweites Mal gelingt...«
Kim seufzte. Kelhim hatte recht, natürlich. So, wie jeder recht hatte - Themistokles, Rangarig, Harkvan, Priwinn... Aber alle Vernunft und alles Rechthaben würden ihnen letztlich nichts gegen Boraas nutzen.
Er lehnte sich schwer auf die Brüstung und starrte über den See. Plötzlich stutzte er. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, beugte sich weit vor und schaute konzentriert zur Flußmündung hinüber.
»Kelhim«, rief er aufgeregt. »Sieh! Was ist das?« Er deutete mit dem Arm auf eine Anzahl kleiner Punkte, die auf der schnellen Strömung herangeschossen kamen.
Kelhim schaute in die angegebene Richtung. »Ich mag mich täuschen«, brummte er, »aber es sieht so aus, als wären das Flöße. Viele Flöße.«
»Mir scheint, meine zwei Augen sehen besser als deines«, murmelte Kim, ohne den Blick von den auf den Wellen hüpfenden Flößen zu wenden. »Es sind Steppenreiter. Harkvan kommt!«
»Möglich«, brummte Kelhim. »Es sind viele. Und doch wenige. Zu wenige!« Unvermittelt riß er sich von dem Anblick los. »Komm! Wir wollen rechtzeitig im Hafen sein, wenn sie einlaufen! Das riecht nach einer Katastrophe.«
Sie stürmten die Treppe hinunter. Kim hatte Mühe, mit dem Tempo mitzuhalten, das der Bär plötzlich entwickelte. Aber sie hatten einen weiten Weg vor sich, mußten sie doch das Schloß fast in seiner gesamten Länge durchqueren. Unterwegs trafen sie auf Gorg, der ebenfalls von der Ankunft der Flöße Wind gekriegt hatte, und zu dritt rannten sie weiter. Eine große Menschenmenge hatte sich im Hafen versammelt. Als sie die geschwungene Freitreppe zum Kai hinunterstürmten, passierte das erste Floß gerade die schmale Einfahrtsrinne. Kelhim und Gorg brachen mit ihren breiten Schultern eine Gasse durch die Menge. Dann standen sie schwer atmend am Ufer und sahen der Ankunft der Flöße entgegen.
Kims Freude, die Steppenreiter wiederzusehen, schlug in Schreck und Niedergeschlagenheit um, als er die Flotte näher kommen sah. Das Floß, das als erstes in den Hafen einlief, war ein Bastfloß, ähnlich dem, auf dem sie selbst vor wenigen Tagen nach Gorywynn gekommen waren, nur größer, mit einer Bordwand und niedrigen Aufbauten aus Schilf und Holz versehen. Nach und nach zählte Kim insgesamt achtundzwanzig der großen, plumpen Gefährte, und auf ihnen mochten sich vielleicht zwei- bis dreitausend Menschen befinden; Männer, alte und junge, Frauen und Kinder. Aber das waren nicht mehr die stolzen, aufrechten Menschen, die er in Caivallon kennengelernt hatte. Kaum einer von ihnen war unverletzt. Viele trugen Verbände, und das Stöhnen der Verwundeten übertönte das Raunen der Menge.
»Ihr Götter!« rief Gorg.
Ein Fanfarenstoß ertönte. Die Flügel des großen Bronzetores am oberen Ende der Freitreppe schwangen auf, und Themistokles stürmte, von einer Schar aufgescheuchter Wachen begleitet, die Stufen herunter. Die Menschenmenge teilte sich vor ihm und bildete eine Gasse, durch die er ungehindert zum Kai gelangen konnte. Die Besorgnis auf seinen Zügen wich einem Ausdruck des Erschreckens, als er die Situation erfaßte.