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Kim sah verwundert auf. Er erkannte den Mann wieder. Es war derselbe weißhaarige, bärtige Alte, der ihnen zuvor in der Klinik begegnet war. Statt des blauen Kittels trug er jetzt einen dunkelbraunen Mantel, der ihm um etliche Nummern zu groß war und dessen Ärmel so lang herunterhingen, daß die Hände darin verschwanden. Sein weißes Haar war naß vom Regen und klebte in wirren Strähnen an seinem Kopf. Er ging jetzt wirklich auf einen knorrigen Stock gestützt, den er in der vorgestreckten Hand hielt. Er wischte mit dem Ärmel über das nasse Glas und preßte das Gesicht an die Scheibe.

Kim erschrak. Der alte Mann sah nicht einfach nur unbestimmt herein, über ihren Tisch hinweg. Nein. Der Blick seiner grauen Augen schien sich direkt in den seinen zu bohren, und obwohl sich im Gesicht des Fremden nicht der kleinste Muskel regte, hatte Kim das Gefühl, daß er ihn anlächelte. Unwillkürlich lächelte er zurück. Der Schreck der Überraschung war verflogen. Auf eine seltsame, schwer zu begreifende Art flößte ihm dieses faltige Gesicht Vertrauen ein. Undenkbar, daß dieser Mann böse sein könnte - niemals. Er schien die Güte selbst zu sein, wie eine allegorische Gestalt in einem Film oder Theaterstück. Ein gütiger alter Opa oder - noch besser - ein weiser, guter Zauberer.

Vater räusperte sich. Kim senkte schuldbewußt den Blick und starrte in sein Glas. Er hatte ein schlechtes Gewissen, daß er sich Gedanken über irgendeinen dahergelaufenen alten Landstreicher machte, während seine Schwester bewußtlos in diesem großen, grauen Verlies dort drüben lag und womöglich sterben würde.

»Gehen wir«, sagte Vater. Er stand auf, legte einen Geldschein auf den Tisch und holte die Mäntel aus der Garderobe. Sie verließen das Cafe. Kim hielt nach dem alten Mann Ausschau, konnte ihn aber nicht mehr entdecken. Wahrscheinlich war er weitergegangen, um irgendwo ein warmes und trockenes Plätzchen zu finden.

Die Stadt versank allmählich in der Dämmerung, während sie nach Hause fuhren. Die Autos hatten das Licht eingeschaltet, und der nasse Asphalt reflektierte den Schein der grellen runden Lampen, so daß es aussah, als glitten sie in einem Boot über einen breiten, unbewegten Kanal, in dessen Oberfläche sich ein prachtvoller Sternenhimmel spiegelte. Auch in den Häusern gingen jetzt nach und nach die Lichter an, aber es gab auch welche, die ganz oder teilweise dunkel blieben, als hätten ihre Bewohner vergessen, Türen und Fenster zu schließen, ehe die Dunkelheit hereinkriechen konnte. Der Fluß wirkte noch ruhiger und dunkler als auf der Herfahrt, kaum noch wie ein Fluß, vielmehr wie ein tiefer, bodenloser Graben, der das Land in einer schnurgeraden Linie teilte und darauf wartete, daß ihm ein leichtsinniges Opfer zu nahe kam.

Es war beinah acht, als sie zu Hause ankamen. Vater hielt vor dem Haus an, wartete, bis sie ausgestiegen waren, und fuhr dann den Wagen in die Garage, die sich am unteren Ende der Straße befand. Ein bleicher Halbmond hing am Himmel, versilberte die Dächer und vertrieb die Farben aus den Vorgärten.

Im Haus war es wohlig warm. Kim hängte seine nasse Jacke in die Garderobe und lief in sein Zimmer hinauf, um sich umzuziehen. Das Buch mit der Mathematikaufgabe lag noch genauso da, wie er es hingelegt hatte, und die grünen Leuchtziffern des Taschenrechners starrten ihn wie zwei winzige, glühende Augen an.

Kim blieb in der Tür stehen, streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus und ließ sie auf halbem Weg wieder sinken. Einen Moment lang versuchte er, sich über das seltsame, befremdliche Gefühl in seinem Inneren klarzuwerden. Nichts in diesem Zimmer hatte sich verändert, und doch wirkte alles anders, fremd und geheimnisvoll. Durch das offenstehende Fenster strömte silbernes Mondlicht herein, und das Fensterkreuz warf einen langgestreckten schwarzen Schatten auf den Teppich. Der rechte Arm wies direkt auf das Bücherbord, der andere verlor sich irgendwo in den beigebraunen Mustern des Teppichs. Kim machte einen zögernden Schritt ins Zimmer hinein, blinzelte verblüfft und blieb abermals stehen. Für einen kurzen Moment hatte er den Eindruck gehabt, daß sich das Muster bewegte, helle und dunkle Umrisse ineinanderkrochen und sich zu einem völlig neuen Bild ordneten. Für einen winzigen Augenblick hatte er geglaubt, auf eine Miniaturlandschaft hinunterzusehen, eine Landschaft mit Flüssen und Bergen, Schluchten und Wäldern und großen fruchtbaren Ebenen. Ein Geräusch wie helles, fröhliches Lachen klang zu ihm herauf.

Dann fiel unten die Haustür ins Schloß, und der Raum wurde wieder zu seinem gewohnten, unordentlichen Zimmer. Kim seufzte, schaltete das Licht ein und zog sich um. Dann ging er hinunter in die Küche.

Seine Mutter hatte in der Zwischenzeit Tee gekocht und Brot und Butter und kalten Braten auf den Tisch gestellt. Vater saß auf einem Stuhl am Fenster, starrte in die Dunkelheit hinaus und rauchte schon wieder.

Sie aßen schweigend. Als sie fertig waren, stand Vater wortlos auf, ging ins Wohnzimmer hinüber und schaltete den Fernseher ein, während Mutter das Geschirr zum Spülstein trug und abzuwaschen begann, obwohl sie eine Spülmaschine hatte und schmutzige Tassen und Teller normalerweise nur in die Schublade unter der Spüle tat, bis sie genug für eine Füllung zusammen hatte.

Kim beobachtete sie eine Weile stumm, schob dann seinen Stuhl zurück und erklärte, er würde nach oben gehen und seine Rechenaufgabe fertigmachen.

»Das ist nicht nötig.« Mutter sah auf. Sie nahm die Hände aus dem Spülwasser und trocknete sie an einem Handtuch ab. »Du mußt morgen nicht in die Schule, wenn du nicht willst«, fügte sie hinzu. »Ich schreibe dir eine Entschuldigung. Es war ein anstrengender Tag. Für uns alle. Wir schlafen uns am besten erst einmal richtig aus. Sag Vater gute Nacht, und dann geh auf dein Zimmer.«

»Darf ich noch eine Stunde lesen?« fragte Kim.

Mutter lächelte. »Eine halbe«, schränkte sie ein. »Ausnahmsweise.«

Kim wollte noch etwas sagen, aber er spürte, daß es besser war, sich zurückzuziehen. Er nickte, ging in die Diele hinaus und zögerte einen Moment, ehe er das Wohnzimmer betrat. Sein Vater saß im Dunkeln auf der Couch, starrte den Fernseher an und spielte mit seinem Feuerzeug.

»Gute Nacht«, sagte Kim leise.

Sein Vater gab durch keine Regung zu erkennen, daß er es gehört hatte. Kim zuckte mit den Achseln, blieb noch einen Moment unschlüssig stehen und ging dann nach oben.

Er ging nicht direkt in sein Zimmer, sondern an diesem sowie am Schlafzimmer seiner Eltern vorbei zum Zimmer seiner Schwester. Seine Finger zitterten ein wenig, als er die Klinke herunterdrückte, und er beeilte sich, nach dem Lichtschalter an der Wand zu tasten. Erst als er die Lampe eingeschaltet hatte und das helle Licht der Glühbirne die Schatten in ihre Ecken zurückgetrieben hatte, wagte er es, durch die Tür zu treten.