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Das Zimmer ähnelte bis ins kleinste seinem eigenen. Seine Eltern hatten für beide Kinderzimmer die gleiche Einrichtung gekauft, als sie vor drei Jahren in das neue Haus gezogen waren. Selbst Teppich und Gardinen waren gleich, nur daß auf Rebekkas Schreibtisch bunte Kleinkinderkritzeleien statt Schulbüchern lagen und das schmale Bord über dem Bett nicht so vollgestopft war wie das seine.

Ohne besondere Absicht trat Kim zu dem Bücherregal und zog wahllos eines der farbigen Bilderbücher hervor. Er klappte es auf, betrachtete kurz die bunten Bilder und ließ dann die Seiten durch die Finger gleiten, so daß sie einen verschwommenen Umriß bildeten und er den sanften Luftzug im Gesicht spüren konnte. Er klappte das Buch zu, stellte es an seinen Platz zurück und fuhr mit dem Finger die Reihe von Buchrücken entlang. Es waren fast alles Bilderbücher, wie man sie bei einem Kind in Rebekkas Alter erwartete, aber es gab darunter auch einige, die sie noch gar nicht lesen konnte: Märchen- und Sagenbücher, aus denen Mutter manchmal vorlas oder die eine oder andere Geschichte aus dem Gedächtnis erzählte. Diese Bücher interessierten Kim nicht besonders. Geschichten von Ländern hinter dem Spiegel und geheimnisvollen Reichen jenseits der Zeit waren etwas für kleine Mädchen, nicht für einen fast schon erwachsenen Jungen wie ihn.

Er drehte sich um, zog die Tür lautlos hinter sich zu und schlich auf Zehenspitzen zu seinem Zimmer, fast als hätte er Angst, bei etwas Verbotenem überrascht zu werden. Er hörte, wie Mutter den Telefonhörer abnahm, eine Nummer wählte und dann mit leiser Stimme sprach. Einen Moment lang blieb er an das Treppengeländer gelehnt stehen, lauschte und huschte dann in sein Zimmer. Er zog sich aus, löschte das große Licht und ging ins Bett, nachdem er die Nachttischlampe eingeschaltet und den »Angriff der Telepathen«, den letzten Band der »Sternenkrieger«, vom Regal genommen hatte. Er fand die Stelle, wo er aufgehört hatte, rasch wieder. Aber es fiel ihm schwer, sich auf das Buch zu konzentrieren. Es war eine der spannendsten Szenen, der Moment, in dem sich Commander Arcana entscheiden mußte, ob er die Warlord II in einen aussichtslosen Kampf mit den technisch weit überlegenen Telepathiemonstern führen oder das Schiff retten und den Unheimlichen den Weg in die Galaxie freigeben sollte. Aber die Buchstaben hüpften vor Kims Augen auf und ab und ergaben keinen Sinn.

Kim klappte das Buch zu, starrte einen Herzschlag lang ärgerlich die weißgestrichene Decke über seinem Kopf an und versuchte es dann noch einmal.

Es ging nicht. Sosehr er sich auch konzentrierte, zwischen den Zeilen schlichen sich immer wieder andere, beunruhigende Gedanken ein. Und wenn er versuchte, sich Commander Arcanas schmales, bärtiges Gesicht vorzustellen, sah er dahinter das kleine weiße Gesicht seiner Schwester, gefangen und verloren in der unendlichen Wüste des Krankenhausbettes.

Es klopfte. Kim ließ erschrocken das Buch sinken, setzte sich auf und sagte: »Herein.«

Die Klinke wurde zögernd heruntergedrückt. Ein schmaler, dreieckiger Lichtschein fiel aus dem Korridor herein, und Kim hörte Mutter unten im Flur reden. Sie telefonierte noch immer.

»Störe ich?« fragte Vater.

Kim antwortete nicht. Vater machte die Tür hinter sich zu und trat zu ihm ans Bett. Er schob die Decke beiseite und setzte sich auf die Bettkante. Mit einem nachsichtigen Lächeln griff er nach dem Buch in Kims Händen.

»Sag's mir ruhig, wenn ich dich beim Lesen störe«, sagte er.

»Du störst mich nicht«, versicherte Kim. »Das Buch ist... ich konnte sowieso nicht richtig lesen.«

Er war irritiert. Es kam selten vor, daß Vater noch einmal nach ihm sah, nachdem er zu Bett gegangen war, und wenn, dann nur um ihm zu sagen, daß er einen Fehler in seinen Hausaufgaben entdeckt hatte. Aber diesmal schien er aus einem anderen Grund gekommen zu sein.

»Das hier ist spannender als Hausaufgaben, nicht?« fragte Vater, mit dem Kinn auf das Buch in seinen Händen deutend.

Kim nickte. Dann biß er sich auf die Lippen und murmelte etwas Unverständliches.

Sein Vater hatte offenbar keine Antwort erwartet, denn er redete gleich weiter. »Weißt du, daß ich auch so etwas gelesen habe, als ich in deinem Alter war?«

Kim sah ihn verwirrt an. Sein Vater - und einen Zukunftsroman?

Vater lächelte. »Du kannst es mir ruhig glauben. In meiner Schulzeit habe ich die Dinger regelrecht gefressen. Und nicht nur ich. Meine Freunde waren genauso wild darauf. Wir haben regelrechte Klubs gegründet und die Hefte untereinander ausgetauscht. Heimlich natürlich. Unsere Eltern durften nichts davon wissen. Sie hätten uns den Hintern versohlt, wenn sie geahnt hätten, wofür wir unser Taschengeld ausgeben.« Er lachte leise.

»Du... du hast wirklich Science Fiction gelesen, früher?« fragte Kim ungläubig.

»Warum nicht?« Vater stand auf und ging zum Bücherbrett hinüber. »Meine Lieblingsserie war ›Raumschiff Orion‹, aber die kennst du wohl gar nicht mehr.«

Kim dachte angestrengt nach. Thomas, sein Banknachbar in der Schule, hatte einmal ein uraltes, zerlesenes Heft dieses Namens mitgebracht, aber er war nicht zu bewegen gewesen, Kim einen Blick hineinwerfen zu lassen.

»Ich glaube, ich habe die Schmöker sogar noch«, fuhr Vater nachdenklich fort. »In irgendeiner Kiste auf dem Dachboden müssen noch Dutzende davon sein.«

»Gibst du sie mir?« Die Frage war Kim einfach so herausgerutscht.

Zu seiner Verblüffung sagte sein Vater wieder: »Warum nicht«, während er jetzt ein Buch nach dem anderen vom Regal nahm, die Titelbilder betrachtete und eins ums andere wieder zurückstellte, um nach dem nächsten zu greifen. »Wie ich sehe, kann ich dich sowieso nicht daran hindern, diesen Kram zu lesen, und so gibst du dein Taschengeld vielleicht einmal für etwas Sinnvolleres aus. Weißt du«, fügte er hinzu, während er das letzte Buch in der Reihe zurückstellte und eines von Kims sorgfältig angefertigten Raumschiffmodellen zur Hand nahm, »ich kann gut verstehen, was dich daran so fasziniert.«

»Wirklich?« Kim streichelte das pfeilflügelige Raumschiff in Vaters Händen mit einem zärtlichen Blick. Sein Taschengeld für eine ganze Woche war dafür draufgegangen. Er hatte vier Abende an dem Modell gebastelt und fluchend all die winzigen Antennen, Sensoren und Laserstrahler montiert.

»Natürlich«, antwortete Vater ernst. »Das Leben in diesen Geschichten ist viel einfacher als das wirkliche Leben, nicht? Keine Schule, keine bösen Lehrer, keine Eltern, die einen dazu zwingen, bei schönem Wetter im Haus zu sitzen und Schulaufgaben zu machen«, fügte er augenzwinkernd hinzu. »Du setzt dich einfach in dein Raumschiff und schwingst dich in den Weltraum empor.«

»Aber das stimmt doch gar nicht!« empörte sich Kim.

»O doch, es stimmt«, antwortete Vater ruhig. »Ich weiß es. Als ich so alt war wie du, da habe ich selbst neben Commander McLean in der Kommandozentrale der Orion gestanden und gezittert, als die Raumschiffe der Frogs die Erde angriffen.« Er drehte das Modell lächelnd ein paarmal in den Händen und fragte dann: »Was ist das?«

»Eine Viper«, erklärte Kim eifrig. »Ein Viperjäger. Er hat nur zwei Mann Besatzung, aber er ist unheimlich schnell und so wendig, daß er praktisch unangreifbar ist.« Er zeigte auf die beiden kleinen spitzen Dornen, die unter der gläsernen Bugkanzel des Schiffes hervorsahen. »Siehst du - das sind die Laserkanonen.«

»Laserkanonen, soso«, nickte Vater. Kim sah ihn aufmerksam an und versuchte vergeblich Spuren von Spott in seinem Gesicht zu erkennen; es schien ihm vollkommen ernst zu sein. »Zu meiner Zeit waren wir schon moderner«, sinnierte er. »Wir hatten riesige Raumschiffe, vier oder fünf Kilometer groß, mit Waffen, die einen ganzen Planeten zerstören konnten.«

»Das kann die Warlord II auch«, warf Kim ein.