Seine Stimme wurde leiser und verklang schließlich völlig, aber Kim hatte noch lange das Gefühl, ihr gebrochenes Echo zu hören.
Zeit und Raum waren auch in diesem unbekannten, düsteren Teil der Zwergenwelt nicht faßbar. Niemand vermochte zu sagen, wie lange sie unterwegs waren und welche Entfernung sie zurückgelegt hatten. So zählte Kim in Gedanken langsam bis tausend, bis er ein Zeichen gab, auf das hin die anderen anhielten.
Kim sah sich unbehaglich um. Die anderen Kinder drängten sich zusammen wie eine Herde verängstigter Tiere, die beieinander Schutz vor der Nacht suchen, und aller Blicke richteten sich erwartungsvoll auf ihn. Erst jetzt wurde er sich der Tatsache bewußt, daß er nicht nur den Anstoß zu diesem Ausbruch gegeben hatte, sondern daß die anderen wie selbstverständlich dachten, daß er stets wüßte, was als nächstes zu tun sei.
Schließlich rettete sich Kim in ein Achselzucken und setzte eine Miene auf, die um etliches zuversichtlicher war, als er sich in Wirklichkeit fühlte. »Ich glaube, wir sind sie erst einmal los«, sagte er. »Also gehen wir weiter. Es gibt ja nur eine Richtung.«
Peer sah ihn skeptisch an. Kim überlegte einen Moment angestrengt, dann fügte er etwas leiser hinzu: »Vielleicht hat Jarrn recht. Wer weiß, welche Gefahr hier auf uns lauert. Möglicherweise führt dieser Tunnel immer tiefer in die Erde hinein und hat keinen Ausgang. Wer also zurück möchte, der kann es tun. Ich werde ihn nicht aufhalten, und ich werde ihm auch nicht böse sein.«
Niemand rührte sich. Kim wartete noch etwas, dann sagte er noch einmal, und diesmal mit sehr lauter, kräftiger Stimme, so daß jeder seine Worte verstehen konnte: »Wer zurück will, der soll es jetzt tun. Ich bin sicher, daß Jarrn sein Wort hält und euch nicht bestraft.«
Nach einer Weile traten tatsächlich zwei Jungen und ein Mädchen vor. Kim sah die Furcht in ihren Augen und lächelte ihnen aufmunternd zu. »Geht nur«, meinte er. »Vielleicht seid ihr drei die einzigen von uns, die Verstand haben.« Er wartete, bis sie an ihm vorbeigegangen waren und in der grauen Dämmerung hinter ihnen verschwanden, dann wandte er sich noch einmal an die anderen: »Hört mir zu. Ich kann euch nichts versprechen. Ich weiß nicht einmal, wohin dieser Gang führt. Es ist gut möglich, daß wir uns hoffnungslos verirren, daß wir verhungern oder verdursten oder sonst-wie umkommen. Wenn ihr also trotzdem mitkommen wollt, so wißt, daß es um Leben und Tod geht. Also?«
Wieder verging einige Zeit, dann traten zwei weitere Jungen hervor und folgten den drei anderen mit raschen Schritten. Kim blickte noch einmal auffordernd in die Runde. Sie waren noch immer über vierzig, und der Gedanke, daß die Verantwortung für sie alle nun auf seinen Schultern lastete, ob Kim es wollte oder nicht, war alles andere als angenehm. Aber keiner von ihnen machte mehr Anstalten, zu den Zwergen zurückzukehren, und so ging Kim schließlich schweren Herzens weiter und marschierte an der Spitze des kleinen Häufchens Verlorener in die ewige Dämmerung unter der Erde hinein.
Endlos, wie es schien, wanderten sie im steten Zwielicht dahin. Da der graue Schein und die Gleichförmigkeit der Umgebung ihre Sinne narrte, ließ Kim seine Begleiter einen nach dem anderen langsam bis fünfhundert zählen, um wenigstens ein ungefähres Maß für das Verstreichen der Zeit zu haben. Als sie auf diese Weise bei zehntausend angelangt und mithin gute drei Stunden marschiert waren, da kamen sie das erste Mal an eine Abzweigung. Der Tunnel gabelte sich in einen nach rechts und einen nach links führenden Weg, wobei beide gleich groß und ganz rund geformt waren, so daß sie wie zwei riesige Rohre vor ihnen in den Berg hineinführten. Die Wahl, welche Abzweigung sie nehmen sollten, fiel ihnen leicht: Der rechte Tunnel führte fast in der gleichen Richtung wie bisher weiter in den Berg hinein, während der linke so steil nach oben abzweigte, daß auf dem spiegelglatten Boden ein Vorankommen zwar möglich gewesen wäre, aber übermäßig viel Kraft gekostet hätte. Kim entschied sich für den rechten Gang, und keiner der anderen protestierte. Aber sie wurden noch stiller und nachdenklicher, und Kim fühlte, wie die Furcht in ihrer aller Herzen noch mehr zunahm. Denn etwas an diesem Gang war anders als an jenem, den sie bisher gegangen waren. Das graue Licht war noch immer da, und es machte es noch immer unmöglich, weiter als zehn oder fünfzehn Schritte weit zu sehen; es schien, als wanderten sie durch ein endloses, nebliges Nichts, das gleich hinter ihnen alles löschte und mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der sie sich vorwärtsbewegten, vor ihnen wuchs. Dieser Tunnel war größer. Seine Wände waren so glatt, als wären sie sorgsam poliert worden, und obwohl er sehr breit war, bewegten sie sich nach einer Weile nur noch im Gänsemarsch dahin, denn auf dem ansteigenden Boden des gerundeten Stollens fanden ihre Füße kaum Halt.
Sie legten eine Rast ein, die aber nicht sonderlich lang ausfiel, denn sie hatten weder zu essen noch zu trinken und auch kein Feuer, um sich zu wärmen. Da sie sich nicht bewegten, spürten sie die klamme Kälte des Tunnels doppelt bitter. Kaum jemand sprach, und selbst die wenigen, geflüsterten Unterhaltungen nahmen immer mehr ab, je tiefer sie in den Leib der Erde vordrangen. Nach einer Weile gelangten sie an eine weitere Abzweigung. Dann an noch eine. Und noch eine. Sie nahmen immer den rechten Weg, weil Peer ganz richtig meinte, auf diese Weise könnten sie sich nicht verirren, sollten sie aus irgendeinem Grunde umkehren müssen.
Gerade als Kim überlegte, daß es nun bald an der Zeit wäre, eine längere Rast einzulegen, damit sie ein wenig schlafen und neue Kräfte schöpfen konnten, blieb Peer, der neben ihm ging, abrupt stehen.
Auch Kim hielt an. »Was hast du?«
»Pst«, machte Peer, schloß die Augen und legte den Kopf schräg, um zu lauschen. Kim hielt den Atem an und lauschte ebenfalls, konnte aber nichts hören. Erst nach einer Weile öffnete Peer wieder die Augen und zuckte mit den Schultern. »Nichts«, sagte er mit einiger Verspätung auf Kims Frage. »Ich muß mich wohl getäuscht haben.«
Aber seine Stimme widerlegte seine Worte. Jetzt spürte auch Kim eine immer stärker werdende Unruhe. Der unheimliche Odem dieses Ortes war keinen Deut schwächer geworden, seit sie in ihn eingedrungen waren. Während sie sich mühsam durch die wie poliert wirkenden Stollen schleppten, gewöhnten sie sich ein wenig an das angstmachende Innere dieses Labyrinths - aber das war alles. Sie waren noch keine hundert Schritte weit gegangen, als Peer abermals stehenblieb, diesmal, um mit gerunzelter Stirn vor Kims Füße zu deuten.
Kim sah genauer hin. Vor ihm war ein dunkler Fleck auf dem Boden, nicht größer als ein Handteller, und eigentlich nur von seiner Umgebung zu unterscheiden, weil er glitzerte, als wäre er feucht. Und genau das war er auch, wie Kim feststellte, als er sich davor in die Hocke sinken ließ und vorsichtig die Hand ausstreckte. Bröckchen schnüffelte neugierig an dem Fleck und fuhr mit einem angeekelten Laut zurück. Kim verzog das Gesicht, als er die Fingerspitzen an die Nase rührte.
Das war kein Wasser, sondern eine Art durchsichtiger, klebriger und übelriechender Schleim.
Die Flecken häuften sich, je weiter sie gingen. Waren es zuerst nur vereinzelte, kleine Tropfen, so stießen sie bald auf ganze Lachen der stinkenden, klebrigen Flüssigkeit. Bald konnten sie nicht mehr ausweichen, denn jetzt war der Boden - aber auch die Wände und selbst die Decke - über und über mit diesem sonderbaren Schleim beschmiert. Als wäre hier etwas entlanggekrochen, dachte Kim schaudernd. Der Schleim erinnerte ihn an die Kriechspur einer gewaltigen Schnecke - aber was für eine Schnecke mußte das sein, die einen Tunnel zur Gänze ausfüllte, der so hoch wie acht aufeinanderstellende Männer war?
Sie hatten ein weiteres Mal bis zehntausend gezählt, und nicht nur Kims Kräfte neigten sich nun endgültig dem Ende entgegen. Der Gedanke, sich auf diesen klebrigen, beschmierten Boden zu legen, um zu schlafen, drehte ihm schier den Magen um. Doch in nicht allzu langer Zeit würde ihnen gar keine andere Wahl mehr bleiben, wollten sie nicht weitermarschieren, bis der Schwächste von ihnen einfach zusammenbrach. Und Kim war nicht einmal sicher, daß nicht er der erste sein würde. Jeder Schritt fiel ihm schon schwerer als der vorhergehende, und es kam ihm vor, als koste es ihn jede Kraft, die Füße aus der klebrigen Pampe zu ziehen, die den Boden bedeckte. Selbst Bröckchen war auf seine Schultern gekrabbelt, um nicht durch diesen Schleim hindurchkriechen zu müssen.