»Was?!« Kim richtete sich kerzengerade auf. Peer fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch und blinzelte verwirrt. »Ich bin nicht sicher«, flüsterte Bröckchen. »Deshalb wollte ich, daß es vorerst auch nur du erfährst. Ich bin ein Stück weit den Gang hinaufgelaufen, bis ich neuerlich an eine Abzweigung kam.«
»Und sie führt nach draußen?« fragte Kim aufgeregt. »Nicht so hastig. Ich sagte, ich glaube, daß sie nach draußen führt.«
»Du hast dich nicht überzeugt?« mischte sich jetzt Peer stirnrunzelnd ein, der bisher schweigend zugehört hatte. Bröckchen schüttelte sich. »Nein. Aber da war ein frischer Wind, und ich glaube, ich habe Licht gesehen.«
»Du glaubst es also, so«, murrte Peer.
»Laß«, sagte Kim. »Wie müssen es immerhin versuchen.«
Rasch stand er auf, weckte die anderen und berichtete ihnen, was Bröckchen entdeckt zu haben meinte. Und obwohl die Ungewißheit groß war, wollten sie alle gleich in diesen Gang vordringen.
Da sie nichts zu essen hatten und es auch kein Wasser gab, brachen sie sofort auf. Der Weg war nicht weit; kaum dreihundert Schritte jenseits der Stelle, an der sie gestern abend kehrtgemacht hatten, zweigte tatsächlich ein weiterer, kreisrunder Gang nach rechts ab, den sie nun einschlugen. Sie hatten erst wenige Schritte getan, als Kim tatsächlich einen kühlen Hauch auf der Haut zu verspüren glaubte.
Der Gedanke, einen Ausweg aus diesem unterirdischen Labyrinth gefunden zu haben, spornte sie alle noch einmal an. Sie schritten kräftiger aus, und selbst die Furcht vor den entsetzlichen Bewohnern dieses Tunnelsystems vermochte sie nicht mehr aufzuhalten.
Es dauerte nicht lange, da gewahrte Kim weit vorne einen helleren Schein in dem unwirklichen Grau, das sie umgab. Sie liefen immer schneller, ohne sich noch um weitere Abzweigungen zu kümmern. Und wirklich wuchs der diffuse helle Schein zu einem Punkt aus Licht, schließlich zu einem wahrhaft von Sonnenstrahlen erfüllten Kreis heran.
Dieser Anblick gab ihnen neue Kraft. Mit einemmal war alle Furcht und Erschöpfung vergessen, und sie legten die letzte Strecke im Laufschritt zurück, Peer und Kim an der Spitze.
Um ein Haar aber wäre alles umsonst gewesen, denn der strahlend blaue Himmel, der sich vor dem Tunnelausgang wölbte, ließ Kim alle Vorsicht vergessen. So wäre er beinahe abgestürzt, ehe er es auch nur bemerkte, hätte ihn Peer nicht im letzten Moment am Arm gepackt und zurückgerissen. Kim verlor durch den plötzlichen Ruck das Gleichgewicht und schlug der Länge nach hin. Schimpfend arbeitete er sich wieder hoch und wollte Peer ärgerlich anfahren, aber dieser machte nur eine Handbewegung und deutete mit der Linken nach vorne. Der Stollen endete in einer lotrechten Felswand, die unter ihnen weit in die Tiefe stürzte, ehe sie in ein mit Geröll und spitzen Felsnadeln übersätes Seeufer überging. Es war ein großer, kreisrunder See, der den Boden eines Felskraters bedeckte. Die Wände rundum wirkten glatt und wie poliert und waren von zahlreichen runden Löchern durchsetzt wie ihr Stollenausgang eines war. Kim stöhnte enttäuscht auf. Sie hatten zwar den Ausgang aus diesem unterirdischen Irrgarten gefunden - aber es schien, als würde ihnen das wenig nützen. Der Krater war so glatt wie poliertes Eisen, und nirgendwo war eine Stelle zu sehen, an der sie in die Tiefe hätten steigen können. Und es hätte ihnen auch gar nichts geholfen, denn die Felswand, die nach unten gut dreißig Meter tief war, erhob sich über ihren Köpfen noch zehnmal so weit in die Höhe. Das war kein Krater, sondern ein riesiger, senkrechter Schacht, der in den Fels getrieben worden war.
»Endstation«, murmelte Peer niedergeschlagen, während er hinaufblickte.
Statt zu antworten, ließ sich Kim vorsichtig auf die Knie herabsinken und beugte sich vor, so weit er es wagen konnte. Es wurde ihm schwindelig, als er in den Abgrund blickte, aber er kämpfte das Gefühl nieder und zwang sich, die Wand Meter für Meter abzusuchen.
Alles umsonst. Nicht einmal eine Fliege hätte an diesem Felsen Halt gefunden.
»Und nun?« fragte Peer matt.
Kim zuckte mit den Schultern. »Wir müssen irgendwie dort hinunter.«
Er betrachtete den See. Das Wasser war von dunkelblauer, fast schwarzer Farbe, was darauf hinwies, daß er sehr tief war, selbst nahe am Ufer. Zwischen diesem Ufer und dem Fuß der Wand lagen gute fünf Meter, vielleicht auch etwas mehr, so genau ließ sich das aus der Höhe heraus nicht schätzen. Kim war nicht sicher, daß sie diese Distanz überspringen konnten. Ganz davon abgesehen, daß ihm vor einem Sprung ins Wasser aus dieser Höhe nun doch etwas bange war.
Kim stand auf und wandte sich an die anderen. »Zieht eure Hemden aus«, sagte er.
Als Peer ihn fragend anblickte, erklärte er: »Wenn wir sie zusammenknoten, langt es vielleicht für ein Seil, an dem wir in die Tiefe klettern können.«
»Das ist unmöglich!« behauptete Peer. »Das geht nicht!«
»Hast du eine bessere Idee?« erkundigte sich Kim.
»Dann tu, was ich dir sage«, fuhr Kim fort, als Peer schwieg. »Wir beide halten das Seil, und die anderen klettern daran in die Tiefe.«
»Selbst wenn wir uns dabei nicht die Hälse brechen«, widersprach Peer abermals, »was ist damit gewonnen? Wir kommen nie aus diesem Loch heraus!«
»Aber wenigstens aus diesem schrecklichen Tunnel«, erwiderte Kim. Er deutete mit der Hand über den See. »Siehst du all diese Löcher in der Wand? Was glaubst du, wer sie gemacht hat?«
Peer erbleichte, dann widersprach er nicht mehr, sondern zog statt dessen sein Hemd über den Kopf und begann, es zusammenzudrehen. Auch Kim zog sich bis auf die Hose aus und knotete alles an die Kleider der anderen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie alle Einzelteile zusammengefügt hatten, und das Ergebnis sah nicht unbedingt vertrauenerweckend aus. Aber als Kim und Peer das eine Ende und zwei kräftige Jungen das andere nahmen und mit aller Kraft daran zerrten, da zogen sich zwar die Knoten fester zusammen, doch das Seil hielt. Es würde gewiß das Gewicht eines einzelnen Kindes tragen, das sah man.
»Also los!« befahl Kim. »Immer zwei halten abwechselnd das Seil, und ein dritter steigt hinunter.«
Es dauerte lange, bis sich der erste bereitfand, die lebensgefährliche Kletterpartie zu wagen, aber nachdem er sie unbeschadet überstanden hatte, stiegen nach und nach auch die anderen Jungen und Mädchen in die Tiefe. Endlich war auch der letzte unten auf dem Felsstrand angekommen, nur Peer und Kim standen noch im Höhlenausgang.
Peer sah Kim ratlos an.
Kim packte das Seil fester, suchte mit gespreizten Beinen sicheren Halt auf dem Boden und machte eine auffordernde Kopfbewegung. »Ich denke, ich kann dich halten, wenn du nicht zu sehr zappelst.«
Peer schüttelte den Kopf. »Und wie kommst du hinunter?« Kim machte ein möglichst überzeugendes Gesicht.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Ich werde springen.« Peers Augenbrauen rutschten erstaunt nach oben.
»Springen?« wiederholte er ungläubig. »Dort hinunter?«
»Sicher«, antwortete Kim. »Es sei denn, du hast zufällig einen Hammer und kräftige Haken dabei, um das Seil hier irgendwo festzuknoten.«
»Das schaffst du nie und nimmer!«
Kim grinste. »Soll ich es dir gleich jetzt beweisen? Nur, wie kommst du dann hinunter?«
Peer beugte sich vor, blickte in die Tiefe und schauderte sichtbar. »Nein, danke«, sagte er. Er griff nach dem Seil, zögerte dann noch einmal und sah Kim fragend an. »Und du sagst das nicht nur, damit ich hinuntersteige?« vergewisserte er sich.
»Nein!« versicherte Kim, aber es war ihm nicht ganz wohl dabei. »Nun mach schon - ich habe keine Lust, den Rest des Tages hier zu verbringen.«
Peer war noch nicht völlig überzeugt, aber er griff dann doch nach dem Seil, kletterte vorsichtig über die Kante und stieg Hand über Hand herab.
Hinterher wußte Kim selbst nicht mehr zu sagen, wie er es geschafft hatte, ganz allein das Gewicht des Jungen zu halten. Es schien ihm die Arme aus den Schultern reißen zu wollen, und er hatte schon nach einer Minute das Gefühl, daß seine Kräfte versagen würden. Immer wieder wurde er auf dem rutschigen Boden auf die Kante zu gezogen und mußte sich unter Aufbietung aller Kräfte ein Stück zurückquälen. Einmal begann das Seil so heftig in seinen Händen zu rucken, daß es schon einem Wunder glich, daß er nicht nach vorn gerissen wurde und kopfüber in die Tiefe stürzte. Aber irgendwie schaffte er es. Plötzlich hörte der entsetzliche Zug auf, und Kim sank mit einem erschöpften Keuchen auf die Knie herab, schloß die Augen und tat eine geraume Weile nichts anderes, als einfach dazusitzen, nach Atem zu ringen und darauf zu warten, daß die Schmerzen in seinen Schultern und Handgelenken aufhörten.