Kim dachte eben, daß dies nun sein Ende wäre, da straffte sich die Kette mit einem peitschenden Knall, und der Tatzelwurm wurde wuchtig zurückgerissen und klatschte ins Wasser. Die entstehende Woge schleuderte Kim ein Stück weiter den Strand hinauf und somit außer Reichweite. Auch die anderen wurden abermals von den Füßen gerissen. Schnaufend kam Kim wieder hoch, rappelte sich auf Hände und Knie empor und wischte sich das Wasser aus den Augen.
Der Tatzelwurm tobte! Seine Schwingen peitschten das Wasser, und sein langer, schuppiger Schwanz schlug mit dröhnenden Geräuschen gegen die gegenüberliegende Felswand. Aber so ungeheuerlich seine Kräfte auch waren, der Kette aus Zwergenstahl vermochten sie nichts anzuhaben!
Eine ganze Welle wütete das Drachenwesen so, bis er die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen einsah, vielleicht war er auch nur erschöpft oder entmutigt. Sein Blick loderte noch immer vor Haß, als sein Kopf mit raschen, schlangenartigen Bewegungen hin- und herpendelte und den Strand absuchte.
»DU!« brüllte er, daß der Boden erbebte. »Du hier! Dir habe ich dies alles zu verdanken!«
Peer und einige der anderen Jungen blickten auf Kim, aber dieser zuckte nur mit den Achseln. Er wußte nicht, was der Tatzelwurm meinte. Trotzdem stand er auf und ging ein paar Schritte weit auf den See zu, blieb dann in respektvollem Abstand vor dem Wasser stehen und achtete darauf, daß er nicht etwa in Reichweite der Kette gelangte.
Der Tatzelwurm bäumte sich abermals auf, als er Kim auf sich zukommen sah, und zerrte mit aller Gewalt an seiner Fessel. Der Boden zitterte, und aus der Krone der Felswand lösten sich Gesteinsbrocken und fielen polternd zu Boden. Aber die Kette hielt dem Ungeheuer auch diesmal stand, und wieder gab es nach einigen Augenblicken auf. Kim musterte den Giganten schaudernd. Das Ungeheuer war mindestens dreimal so groß wie Rangarig; und von einer Bösartigkeit, die alles, was lebte, sich bewegte und frei war, vernichten mußte. Und doch - da war noch mehr. Etwas, das bei ihrer ersten Begegnung nicht im Blick dieses Scheusals gewesen war.
Kim runzelte nachdenklich die Stirn. War es möglich? dachte er. Konnte es sein, daß die unheimliche Verwandlung, die mit allen in Märchenmond vor sich ging, auch vor dem Tatzelwurm nicht halt gemacht hatte?
Gut und Böse waren hier in Märchenmond viel klarer geschieden als dort, wo Kim herkam. Das Gute war hier einfach gut, und weiter nichts. Das Böse war einfach nur böse, ohne Wenn und Aber und ohne Abstufungen. Doch Kelhim, Rangarig und am Schluß selbst Gorg hatten begonnen, Haß und Mordlust zu empfinden, überlegte Kim - war es dann möglich, daß dieses gewaltige Wesen dort umgekehrt plötzlich auch zu anderen Gefühlen fähig war als nur schlechten? Lange Zeit stand Kim hoch aufgerichtet am Ufer und blickte den Tatzelwurm stumm an, hin- und hergerissen zwischen panischer Angst und einer verzweifelten Hoffnung. Schließlich machte er einen weiteren, entschlossenen Schritt, von dem er genau wußte, daß er ihn in die Reichweite der furchtbaren Fänge der Bestie bringen mußte. Auch der Tatzelwurm schien dies zu wissen, denn er legte den Kopf schräg und blickte Kim lauernd an, ohne sich jedoch zu rühren. Vielleicht witterte er eine Falle; oder er wollte nur warten, bis sein Opfer so nahe war, daß es nicht mehr fliehen konnte.
»Du kennst mich also«, sprach ihn Kim an.
Der Tatzelwurm stieß ein tiefes, vibrierendes Grollen aus und peitschte das Wasser mit seinen Schwingen. »Ich hasse dich!« zischte er und wirkte dabei wie eine ins Riesenhafte vergrößerte Schlange.
»Aber warum?« fragte Kim.
In den Augen des gigantischen Ungetüms blitzte es auf. »Alles war gut, bevor du gekommen bist!« grollte es. »Du und dein verdammter, goldener Drache! Und nach euch die schwarzen Ritter. Ihr habt mich besiegt!« brüllte der Tatzelwurm und bäumte sich wieder auf. »Danach sind alle anderen gekommen. Es hat nicht mehr aufgehört. Und ich mußte kämpfen. Immer wieder und wieder und wieder. Und am Ende bin ich alt und müde geworden.«
»Das... tut mir leid«, sagte Kim stockend, und es war die Wahrheit. So böse dieses Wesen war, so hatte es doch seinen Platz in der Schöpfung wie alle anderen. Und ein kleines bißchen fühlte sich Kim tatsächlich schuldig an seinem Schicksal, wenn er auch gleichzeitig wußte, daß sie gar keine andere Wahl gehabt hatten, damals.
»Es tut dir leid?!« brüllte der Tatzelwurm und riß abermals an seiner Kette. »Sieh mich an! Sie haben mich in Ketten gelegt - mich, für den es früher keinen Feind gegeben hat, der ihm gewachsen wäre!«
»Wir sind auch Gefangene«, sagte Kim schlicht.
Der Tatzelwurm hörte für einen Moment zu rasen auf und beäugte ihn mißtrauisch und leicht verwirrt aus der Höhe herab. »Ich sehe keine Ketten«, rief er schließlich. »Du lügst!« Kim streifte das rechte Hosenbein hoch, so daß der Drache den eisernen Ring an seinem Fuß erkennen konnte. »Wir haben unsere Ketten gesprengt«, sagte er. »Und du kannst es auch, wenn du nur wirklich willst.«
Da wurde es still über dem See. Der Tatzelwurm starrte Kim an, und er kam langsam, mit schlangelnden, gleitenden Bewegungen näher, bis sein gigantischer Schädel so nah war, daß Kim nur den Arm hätte auszustrecken brauchen, um ihn zu berühren. Kim starb fast vor Angst, und alles in ihm schrie danach, davonzulaufen, so schnell er nur konnte. Aber er rührte sich nicht, und er hielt auch dem musternden Blick der glühenden roten Augen stand, obwohl er dabei das Gefühl hatte, von innen nach außen gekehrt zu werden. Es schien vor diesen durchdringen Blicken keine Geheimnisse zu geben, keine Lüge und keinen Betrug. »Wenn es euch gelungen ist, diese Ketten zu sprengen, dann müßt ihr stärker sein als ich«, meinte er schließlich. »Meine Kräfte reichen dazu nicht.«
Kim wollte antworten, aber in diesem Moment trippelte etwas Kleines, Rot- und Gelbgestreiftes neben ihn, und Bröckchen piepste, vorlaut wie immer: »He, du da! Vielleicht solltest du weniger deine Muskeln spielen lassen und statt dessen einmal dein bißchen Grips benutzen, dann wärst du schon frei!«
Der Tatzelwurm blinzelte. Kim war nicht sicher, ob er Bröckchen überhaupt sehen konnte, denn es war, zumal in seiner Taggestalt, nicht größer als der Schmutz, der in den Augenwinkeln des Drachen klebte. Aber schon dröhnte der Tatzelwurm: »Wer ist dieser Winzling?« Und Bröckchen antwortete mit einem beleidigenden, unanständigen Geräusch, daß der Blick des gigantischen Drachenwesens sich unheilvoll verdüsterte.
»Nimm Bröckchen nicht ernst«, sagte Kim hastig. »Mein Freund meint es nicht so.«
»Und ob ich es so meine!« protestierte Bröckchen. Aber Kim überging es einfach und fuhr an den Tatzelwurm gewandt fort: »Wir haben diese Ketten nicht mit Gewalt gesprengt, keine Macht der Welt kann sie zerreißen, denn sie wurden von Zwergen geschmiedet. Aber wir -«
Da verstummte er mitten im Wort. Er starrte den Tatzelwurm mit aufgerissenem Mund und Augen an, dann senkte sich Kims Hand ganz langsam zum Gürtel und schloß sich um den eisernen Schlüssel, den er darunter trug. Er hatte ihn in der Erzhöhle eingesteckt und danach glatt vergessen. »Ja?« donnerte der Tatzelwurm.
Kim wollte antworten, aber er kam nicht mehr dazu, denn plötzlich erscholl weit über ihnen ein warnender Ruf, und als Kim den Kopf in den Nacken legte, da sah er Dutzende von winzigen, in flatternde schwarze Mäntel gehüllte Gestalten am Rande des Felskraters aufgereiht.
»Verschwinde von dort, Blödmann!« brüllte Jarrn zu ihm herunter. »Oder willst du zu Drachenfutter werden?« Auch der Kopf des Tatzelwurms ruckte in die Höhe. Als er den Zwerg erkannte, glühten seine Augen vor Zorn, und er stieß ein ungeheuerliches Brüllen aus, als er versuchte, in die Höhe zu springen, um seine Peiniger zu erreichen. Die Kette riß ihn auf halbem Wege zurück, und abermals schien der See in einer Explosion aus Schaum und kochendem Wasser auseinanderzubersten, die Kim und die anderen fluchtartig vom Ufer zurückweichen ließ. Trotzdem durchnäßte sie die Woge abermals bis auf die Knochen und riß die meisten von ihnen zu Boden.