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»Du!« brüllte der Tatzelwurm auf. »Komm herunter, damit ich dich zerreißen kann!«

Jarrn zog eine Grimasse und steckte sich die Zeigefinger in die Ohren, bis das Gebrüll halbwegs verklungen war. Dann nahm er die Hände wieder herunter, schüttelte den Kopf und sagte gelassen: »Fällt mir nicht ein, Würmchen. Wenn du jemanden fressen willst, dann nimm doch die da unten.« An Kim und die anderen gewandt fuhr er fort - »Verdient habt ihr es ja nicht, aber wir holen euch raus. Gebt acht, da unten.«

Zwei seiner Begleiter warfen eine Strickleiter in die Tiefe, die sich klappernd an der Wand entlang abrollte und knapp über dem Boden endete. »Steigt hoch!« rief Jarrn. »Bevor er euch auffrißt.«

Tatsächlich bewegten sich einige der Jungen sofort auf die Leiter zu, aber Kim und auch Peer und der größte Teil der Kinder rührten sich nicht.

Nachdenklich glitt Kims Blick über das riesige Gesicht des Tatzelwurms. Der Drache musterte ihn kalt, und es war Kim nicht möglich, den Ausdruck in seinen feuerroten Augen zu deuten. Kims Hand schloß sich um den Schlüssel unter seinem Gürtel, verharrte einen Moment reglos dort und zog ihn schließlich hervor.

Jarrn kreischte, als er sah, was Kim in den Fingern hielt. »Bist du von Sinnen?!« brüllte er mit vollem Stimmaufwand. »Er wird euch alle töten, und uns dazu!«

Kim machte einen weiteren Schritt zum Wasser hin. Der Tatzelwurm legte den Kopf schräg und blickte ihn sehr nachdenklich, ja beinahe flehend an. Aber das lodernde Feuer in seinen Augen blieb, und Kim vergaß keine Sekunde, welch fürchterlichem Ungeheuer er da gegenüberstand. »Nicht!« heulte Jarrn. »Er bringt euch alle um! Es ist schon ein Wunder, daß ihr seinem Vetter, dem Steinwurm, entkommen sei - wollt ihr euer Glück auf die Probe stellen?«

»Wenn ich dich befreie«, sprach Kim zum Tatzelwurm, »gibst du mir dann dein Wort, uns nichts zu tun?«

Der Tatzelwurm schwieg.

Kim zögerte einen Moment, machte einen weiteren Schritt, hob die rechte Hand mit dem Schlüssel und deutete mit der anderen zu den Zwergen auf dem Kraterrand hinauf. »Und auch ihnen nicht. Ich öffne deine Ketten, aber du darfst kein Blut vergießen.«

»Ich soll ihnen das Leben schenken?« grollte der Tatzelwurm. »Sie haben mich in Ketten gelegt und hier eingesperrt, an diesem öden Ort.«

»Und ich befreie dich«, sagte Kim ernst. »Um den Preis ihres Lebens.«

Atemlose Stille breitete sich aus. Selbst der Tatzelwurrn schien so verblüfft daß er nicht mehr antwortete. Dann rückte er aber ganz nahe und senkte den schweren Schädel. »Sie sind deine Feinde, so wie sie meine sind«, knurrte er. »Warum bittest du um ihr Leben?«

»Weil das Leben heilig ist«, antwortete Kim. »Und niemand hat das Recht, es zu zerstören, ganz gleich aus welchen Gründen.« Er schwieg einen Moment, und als er weitersprach, da überlegte er jedes Wort sehr sorgfältig, denn er spürte, daß von dem, was er jetzt sagte, nicht nur sein, sondern womöglich das Schicksal von ganz Märchenmond abhängen mochte. »Du bist groß, Tatzelwurrn«, sagte er. »Du bist das größte und stärkste Wesen, das ich je gesehen habe. Du hast deine Kräfte, um dem Bösen zu dienen. Mach bitte einmal eine Ausnahme: hilf uns.«

»Euch?« Der Tatzelwurrn riß ungläubig die roten Augen auf und machte ein Geräusch, das sich wie ein Lachen anhörte. »Du bist von Sinnen, Winzling! Ihr seid meine Feinde!«

»Nein«, antwortete Kim. »Das sind wir nicht. Bring uns hier heraus, Tatzelwurrn, und hilf uns, die wirklichen Feinde deiner Welt zu bekämpfen. Vielleicht wird dann alles wieder so werden, wie es war, und auch du wirst wieder so leben können wie einst: stolz und frei und ohne Ketten.« Der Tatzelwurrn regte sich nicht nach diesen Worten, aber nach einer Welle deutete Kim sein Schweigen als Zustimmung und machte einen weiteren Schritt auf ihn zu. Oben auf dem Felsen begann Jarrn zu kreischen, als würde er bei lebendigem Leibe aufgespießt. »Du Irrer!« brüllte er. »Was tust du!«

Aber Kim hörte nicht auf ihn, sondern ging Schritt für Schritt weiter ins Wasser hinein, bis er hüfttief im See stand und der schwarze Hals des Tatzelwurms neben ihm lag. Langsam hob Kim die Hand und steckte den Schlüssel in das winzige Vorhängeschloß, das den Halsring mit der Kette verband. Noch einmal zögerte er. Und noch einmal Schossen ihm blitzschnell tausend Gründe dafür durch den Kopf, warum er ihn besser nicht herumdrehte, aber dann gab er sich einen entschlossenen Ruck und ließ das Schloß aufschnappen.

Der Tatzelwurm bäumte sich mit einem ungeheuren Brüllen auf, breitete die Schwingen aus, daß das Wasser des Sees abermals schäumend emporschoß - und verschwand mit einem einzigen, kraftvollen Satz in den Himmel. Kim und die anderen wurden von der Flutwelle von den Füßen gerissen und zu Boden geschleudert, aber das waren sie ja mittlerweise schon fast gewohnt. Als Kim wieder aufgestanden war, sah er, wie die Zwerge in heller Panik durcheinanderrannten und flohen. Nur Jarrn war stehengeblieben und blickte entsetzt in den Himmel, wo der Tatzelwurm mittlerweile zu einem winzigen Punkt zusammengeschrumpft war.

Doch er flog nicht davon. Für einen Moment entschwand er völlig ihren Blicken, aber dann machte er kehrt, kam zurück und kreiste wie ein Riesenadler über dem See, ehe er sich mit einem schrillen Kreischen in die Tiefe stürzte. Erst im letzten Moment breitete er seine riesigen Lederschwingen aus und fing den Sturz ab.

Kim blickte mit klopfendem Herzen auf den See hinaus. Zum allererstenmal sah er den Tatzelwurm in seiner ganzen, ungeheuerlichen Größe. Anders als bei Rangarig ähnelte der Leib des Drachen dem einer Schlange oder eben eines riesigen Wurms. Und ganz wie eine Schlange glitt der Tatzelwurm jetzt durch das Wasser aufs Ufer zu. Er war so groß, daß Kim sich ernsthaft fragte, wie er überhaupt in dem Kratersee Platz gefunden hatte.

Das geifernde Maul des Ungeheuers stand weit offen, und in seinen Augen loderte noch immer jener rote, unstillbare Haß. Kim und die anderen wichen vom Ufer zurück, bis sie mit den Rücken gegen die glatte Felswand gepreßt dastanden, und für einige Augenblicke war Kim vollkommen davon überzeugt, daß Jarrn recht gehabt hatte und der Tatzelwurm seine neu gewonnene Freiheit als allererstes dazu nutzen würde, sie zu töten.

Hals und Schädel glitten knirschend auf den Kiesstrand hinauf. Sein Blick fixierte Kim, und es war, als schaute Kim direkt in die Hölle. In den glühenden Augen brannte eine unstillbare Wut, die kein bestimmtes Ziel hatte, sondern einfach allem galt, was existierte. Denn dieses Geschöpf war erschaffen worden, um den Worten Haß und Zerstörung einen Körper zu verleihen. Und doch war - Kim spürte es wieder - noch etwas anderes da, und als der Tatzelwurm nach einer Ewigkeit, wie es schien, wieder das Maul öffnete, da tat er es nicht, um sie zu verschlingen.

»Alles wird wieder wie es war?« dröhnte er.

»Das kann ich dir nicht versprechen«, antwortete Kim. »Aber wir können es versuchen. Zusammen gelingt es uns vielleicht.«

Lange, sehr lange blickte ihn der Tatzelwurm an, und Kim fühlte den lautlosen Kampf, der hinter der gewaltigen Stirn stattfand. Aber Kim wußte schon, wie er sich entscheiden würde, noch ehe der Tatzelwurm knurrte: »Also gut, kleiner Held. Versuchen wir es.«

Kim atmete erleichtert auf.

Aber eine Sekunde später war er felsenfest davon überzeugt, sich getäuscht zu haben, denn der Tatzelwurm fuhr mit einer überraschend schnellen Bewegung herum, spreizte die Schwingen und stieß sich mit einem einzigen, kraftvollen Satz bis zum oberen Rand des Felskraters hinauf. Seine weit ausgestreckten, geöffneten Klauen zielten auf den Zwergenkönig, der wie gelähmt dastand, dann aber herumfuhr und mit einem schrillen Schrei die Flucht ergriff. »Nein!« schrie Kim verzweifelt. »Das darfst du nicht!« Jarrn warf sich kreischend zur Seite und versuchte, den zuschnappenden Klauen des Drachenwesens zu entwischen, aber er war nicht schnell genug. Die riesigen Pranken schlössen sich um ihn und hüllten seinen Körper zur Gänze ein. Jarrns gellendes Entsetzensgeschrei brach ab, während sich der Tatzelwurm mit einem zweiten, kraftvollen Schlag seiner riesigen Fledermausschwingen herumwarf, einen Viertelkreis über dem Krater drehte und dann in langsamen, immer enger werdenden Spiralen wieder auf den See herabstieß.