Als er noch zehn Meter über dem Wasser war, öffneten sich seine Vordertatzen, und ein brüllendes, schwarzes Bündel stürzte herab und verschwand klatschend im Wasser.
Jarrn schien nicht verletzt zu sein; zumindest schimpfte er wie gewohnt aus Leibeskräften, kaum daß er wieder an die Wasseroberfläche gekommen war. Der Tatzelwurm flog einen niedrigen Kreis über ihn, und allein der Sturmwind seiner Flügel drückte den Zwerg abermals unter Wasser, schob ihn aber auch gleichzeitig ein Stück weiter auf das Ufer zu. Kim wollte dem Zwergenkönig entgegenlaufen, aber der hatte mittlerweile aus eigener Kraft das Ufer erreicht und schenkte ihm einen so bösen Blick, daß Kim die Bewegung nicht zu Ende führte. Gleich darauf trat panische Angst in seine Augen, denn der Tatzelwurm ließ sich kaum eine Körperlänge hinter ihm aufs Wasser herabsinken und riß das Maul auf, als wolle er Jarrn nun endgültig verschlingen.
»Nein!« schrie Kim noch einmal verzweifelt. »Tu es nicht!« Und das Wunder geschah. Die riesigen Kiefer des Tatzelwurms klafften über dem Zwerg auf wie ein zahnbesetztes Scheunentor, aber die tödliche, zuschnappende Bewegung blieb aus.
Sekunden vergingen, in denen es niemand am Ufer auch nur wagte, zu atmen. Und dann, ganz, ganz langsam hob sich der gewaltige Schädel des Tatzelwurms wieder, und Jarrn stolperte entsetzt zurück und fiel auf sein Hinterteil. Nicht einmal zehn Minuten später kletterten sie alle, einer nach dem anderen, auf den schwarzglänzenden Schlangenleib des Tatzelwurms hinauf, um sich von ihm in die Freiheit zurücktragen zu lassen.
XXII
Selbst die gewaltigen Kräfte des Tatzelwurms reichten nicht aus, das Gewicht von so vielen Gästen länger als zwei oder drei Stunden hintereinander zu tragen, so daß ihr Flug nach Westen in zahllose, kleine Etappen zerfiel. Die Pausen wurden immer länger. Dabei fieberten sie alle innerlich vor Ungeduld. Keiner von ihnen wußte, wieviel Zeit in der Welt draußen vergangen war, während sie in den Höhlen der Zwerge gearbeitet hatten, und erst recht wußte keiner, was inzwischen jenseits der Schattenberge geschehen war. Die Kinder fragten sich, wie es ihren Familien erging, ob sie in Freiheit oder überhaupt noch am Leben waren. Kim jedoch wagte es nicht, den Tatzelwurm zu größerer Eile anzutreiben. Selbst nachdem sie schon drei Tage unterwegs waren, begriff er immer noch nicht wirklich, wie es ihm gelungen war, dieses riesige, zornige Wesen dazu zu bringen, ihnen zu helfen. Auch hätte es wahrscheinlich wenig Sinn gehabt, mit dem Tatzelwurm zu reden. Daß er ihnen jetzt half, bedeutete noch lange nicht, daß er plötzlich zu ihrem Freund geworden wäre; er blieb ein böser Drache, der launisch und unberechenbar war, so daß sich alle während sie rasteten in respektvoller Entfernung von ihm hielten. Kim sprach ihn nur an, wenn es unbedingt nötig war. Und selbst die Gespräche zwischen Kim und Peer wurden immer knapper, bis sie schließlich ganz versiegten, je weiter sie sich den Bergen näherten. Die Angst, ein vom Krieg verwüstetes Land vorzufinden, sobald sie die himmelhohen Gipfel des Schattengebirges hinter sich gebracht hätten, wurde übermächtig und verdüsterte ihre Stimmung wie eine Gewitterwolke. Möglicherweise waren Monate vergangen, wenn nicht Jahre, und vielleicht war es schon viel zu spät, noch irgend etwas zu retten. Der einzige, dessen Laune sich nicht trübte, war Jarrn, den sie einfach mitgenommen hatten. Während des ersten Tages hatte er kaum ein Wort gesprechen und sie alle nur mit haßerfüllten Blicken aufgespießt, aber nachdem er sein erstes Entsetzen überwunden hatte, wurde er wieder ganz der alte, vorlaut und aufsässig, wie Kim ihn kannte. Wenn Kim mit ihm zu reden versuchte, erhielt er entweder gar keine Antwort oder hatte die Wahl zwischen einer frechen Bemerkung, einer Beleidigung oder einer Unflätigkeit.
Dabei war es keineswegs so, daß sich Kim über dieses Benehmen des Zwergenkönigs ärgerte. Jarrns Frechheiten hatten trotz allem etwas, das es schwer machte, sie wirklich übelzunehmen. Aber sie bereiteten Kim Sorge. Mehr, als er vor den anderen zuzugeben bereit war. Jarrn mochte ein Großmaul - oder um eines seiner Lieblingswörter zu benutzen: ein Blödmann - sein, aber er war kein Narr. Wenn er trotz des Umstandes, sich in Gefangenschaft und auf dem Weg zu seinem größten Widersacher zu befinden, derart fröhlich war, so mußte das einen Grund haben. Und Kim hatte das Gefühl, daß ihm dieser Grund ganz und gar nicht gefallen würde.
Am vierten Tag ihrer Reise erreichten sie das Schattengebirge. Sie hatten noch Tageslicht für drei oder vier Stunden, aber der Tatzelwurm begann trotzdem tieferzugehen. Er suchte nach einem Rastplatz für die Nacht, und Kim versuchte nicht, ihn davon abzubringen. Die Schattenberge galten als unüberfliegbar. Niemand wußte, wie hoch sie wirklich waren, und es gab nicht wenige, die behaupteten, daß ihre eisverkrusteten Spitzen direkt an den Himmel stießen. Wenn es dem Tatzelwurm tatsächlich gelingen sollte, über sie hinwegzufliegen, dann würde er jedes bißchen Kraft dafür brauchen, das er zur Verfügung hatte.
Sie schliefen alle nicht sehr gut in dieser Nacht. Auch Kim wälzte sich unruhig hin und her, als er plötzlich mit dem Gefühl erwachte, angestarrt zu werden.
Er hatte sich nicht getäuscht. Eine kleine, in ein schmutziges, schwarzes Cape gehüllte Gestalt saß mit überkreuzten Beinen neben ihm und blickte auf ihn herab. Sie hatten Jarrn mit einer Zwergenkette gefesselt und deren Ende an den Halsring des Tatzelwurms gebunden, so daß der Zwerg zwar genug Bewegungsfreiheit hatte, aber jeglicher Fluchtversuch unmöglich war. Und Kim hatte bisher sorgsam darauf geachtet, stets außer Reichweite des Zwergenkömgs zu sein, wenn er sich zum Schlafen niederlegte.
An diesem Abend jedoch hatte er nicht darauf geachtet. Voller Schrecken begriff er, wie leicht es Jarrn hätte fallen können, den Schlüssel an sich zu bringen, und senkte sogleich die Hand zum Gürtel. Der Schlüssel war noch da. »Keine Sorge, Dummkopf«, sagte Jarrn. »Wenn ich hätte fliehen wollen, wäre ich nicht mehr da. Und du wärst bestimmt nicht wach geworden.«
»Das glaub ich dir gerne«, knurrte Kim, während er sich verschlafen in eine halb sitzende, halb liegende Position hochstemmte. »Bei Diebstahl und Betrug seid ihr Zwerge ja unschlagbar.«
Jarrns Gesicht nahm einen Ausdruck ehrlicher Betroffenheit an. »Wer sagt so etwas?« fragte er. »Wir betrügen niemanden, und wir stehlen auch nicht. Wir treiben Handel, das ist alles.«
»Ja«, erwiderte Kim. »Aber euer Handel gefällt mir ganz und gar nicht.«
Seine Worte fielen unfreundlicher aus, als er eigentlich wollte, und er begriff, daß der grobe Ton nur Ausdruck seiner Verlegenheit war - er hatte Jarrn wirklich unrecht getan. Es war seltsam: Je besser er Jarrn kennenlernte, desto schwerer fiel es ihm, dem Zwerg böse zu sein. Sie standen auf verschiedenen Seiten, das schon, aber ein Betrüger war der Zwerg wirklich nicht. Und doch schien es, als wüßte er mehr, als er sagte. Und das wiederum machte Kim wütend, denn er hatte das unbestimmte Gefühl, daß Jarrn sich insgeheim über ihn lustig machte.
»Laß mich schlafen«, brummte Kim. »Wir haben morgen einen schweren Tag vor uns.« Damit drehte er sich herum und schlief, um ein bißchen weniger unruhig, weiter. Anders als an den Tagen zuvor drängte niemand am nächsten Morgen zum Aufbruch. Sie alle waren sehr still, und auf ihren Gesichtern war die Angst vor dem, was sie erwarten mochte, deutlich abzulesen. Als Kim wieder einmal die Frage stellte, wer von ihnen weiter mitkommen wollte, da antwortete keiner, und schließlich kletterten sie alle wieder auf den Leib des Tatzelwurms hinauf, und der Drache begann mit seinem endlosen Aufstieg.