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Das Grau der Dämmerung blieb hinter ihnen zurück, und sie tauchten in den Sonnenschein ein, der das Land unter ihnen noch gar nicht erreicht hatte. Trotzdem wurde es nicht wärmer, sondern zuerst kalt, dann bitterkalt, schließlich eisig. Kims Haut prickelte vor Kälte, und sein Atem gefror zu grauem Dampf vor seinem Gesicht.

Der Tatzelwurm glitt fast ohne Flügelschlagen und wie ein Segelflieger die warmen Aufwinde an den Bergen nutzend dahin, um Kraft zu sparen. Langsam schraubte er sich an den Flanken des Schattengebirges entlang in die Höhe, während die Reisenden schaudernd enger zusammenrückten, um sich gegenseitig zu wärmen. Es nützte wenig. Ein eisiger Wind kam auf, der wie mit Messern durch ihre Kleidung schnitt, die Luft war wie Glas und so frostig, daß man meinte, sie anfassen zu können. Unter ihnen war längst kein Fels mehr, sondern glitzerndes Eis, das die ganze Gebirgskette wie ein erstickender Panzer bedeckte. Höher und immer höher schraubte sich der Tatzelwurm. Die ersten Berggipfel blieben unter ihnen zurück, aber dahinter lagen die Flanken weiterer, noch höherer Berge, und der Himmel über ihren Köpfen war jetzt von einem dunklen, beinahe schwarzen Blau. Die eisige Luft verbrannte Kims Kehle wie mit Flammen, und er konnte die Hände kaum noch bewegen.

Noch weiter und weiter ging ihr Aufstieg. Der Tatzelwurm überwand auch die nächsten Berggipfel, und hinter diesen erhob sich erneut die Flanke eines Gletschers, dessen Spitze irgendwo im dunklen Blau des Himmels verschwamm. Der Wind war jetzt schneidend, er trieb Kim Tränen in die Augen und ließ sie auf seinen Wangen zu Eis erstarren. Auch auf der rauhen Haut des Tatzelwurms bildete sich eine dünne, knisternde Schicht.

Und es wurde immer noch kälter. Die Bewegungen des fliegenden Drachenwesens begannen allmählich an Eleganz und Kraft zu verlieren. Es stieg noch immer, aber jetzt längst nicht mehr so schnell und mühelos wie zuvor. Dabei wurden die Berge vor ihnen nicht weniger. Hinter jedem Gipfel, den sie überstiegen, ragte ein weiterer Gletscher auf, und Kim begann sich zu fragen, ob das womöglich überhaupt kein Ende hatte und sie verloren waren. Die Luft wurde nun auch dünner, so daß es zunehmend schwerer fiel zu atmen.

Und schließlich kam es, wie es kommen mußte. Zuerst fast unmerklich, aber dann schneller und schneller begann der Tatzelwurm an Höhe zu verlieren. Er schlug jetzt kräftig mit den Flügeln und strengte seine gewaltigen Muskeln an, so sehr er nur konnte, aber es half nichts. Die eisige Luft trug seinen Körper einfach nicht mehr, und das Gewicht seiner Passagiere und das des Eises, das sich immer rascher auf seiner Haut bildete, war einfach zuviel für ihn.

Kim erschrak heftig, als er sich vorbeugte und an den Flügeln des Drachen vorbei in die Tiefe sah. Unter ihnen war nichts als ein Gewirr aus scharfkantigen Felsen und eisverkrusteten Graten. Nirgendwo war eine Stelle zu erblicken, auf der sie sicher landen konnten, um dem Tatzelwurm eine Rast zu gönnen. Plötzlich beugte sich Jarrn vor und schrie: »Nach links! Siehst du den Berg mit der gespaltenen Spitze? Flieg links daran vorbei!«

Obwohl das Heulen des Windes und das Rauschen der gewaltigen Drachenflügel seine Stimme übertönten, schien der Tatzelwurm sie zu verstehen, denn er änderte gehorsam den Kurs und bewegte sich ruckend und unsicher in die Richtung, die der Zwerg ihm angegeben hatte. Kim spürte genau, wie schwer es ihm fiel, die Höhe zu halten. Immer wieder sackte er ab, und immer mühsamer arbeitete er sich mit schweren Flügelschlägen wieder empor. Manchmal streiften sie schon so dicht über die Berggipfel hinweg, daß Kim jeden Moment damit rechnete, einer der messerscharfen Grate würde den Leib des Drachen treffen und ihn aufreißen, so daß sie alle in den Tod stürzen müßten.

Aber irgendwie schafften sie es. Der Tatzelwurm stöhnte bei jedem Flügelschlag, als koste er ihn unendliche Überwindung, und alle mußten sie sich beherrschen, um nicht vor Schmerz und Kälte zu wimmern. Ihre Finger-and Zehenspitzen schienen abgestorben, und es schien, daß die eisige Kälte allmählich in die Körper hineinkroch, um alles Leben darin zum Erstarren zu bringen. So dicht, daß die weit gespannten Schwingen des Riesendrachen beinahe den Felsen zu streifen schienen, glitten sie an der Flanke des von Jarrn bezeichneten Berges entlang. Dahinter lag nichts als ein weiterer Berg. Jarrn deutete wieder nach links und schrie aus vollem Halse, und abermals folgte ihm der Tatzelwurm. Er wandte sich nach links, flog um Haaresbreite an einem rasiermesserscharfen Grat aus Eis vorbei und tauchte in eine plötzlich aufklaffende Schlucht ein.

Und dann, ganz plötzlich, war es vorbei. Die Berge wichen rechts und links von ihnen zur Seite, und mit einem mal lag kein Eis- und Felsengewirr mehr unter ihnen, sondern das Panorama eines weiten, sonnenbeschienenen Landes.

Kim schauderte, als er sah, wie hoch sie flogen. Man konnte keine Unterschiede zwischen Wäldern und Wiesen erkennen. Die Flüsse waren wie dünne silberne Haare, die nur manchmal in der Sonne aufblitzten. Da spürte er, wie den Tatzelwurm nun endgültig die Kräfte verließen. Das riesige Geschöpf stöhnte und legte sich auf die Seite, so daß sie alle mit einem Aufschrei ins Rutschen gerieten und sich entsetzt aneinanderklammerten. Erst im allerletzten Moment fand es sein Gleichgewicht wieder und setzte zum Sturzflug an. Der Sturmwind heulte, und fast hätte er sie alle vom Rücken des Tatzelwurms gefegt, während das Land ihnen regelrecht entgegensprang.

Schon konnten sie Einzelheiten unter sich wahrnehmen, Städte, Dörfer und Gehöfte, Straßen und Wege. Jetzt raste der Tatzelwurm so dicht über dem Boden dahin, daß seine Schwingen durch die obersten Wipfel der Bäume brachen. Dann prallte er mit furchtbarer Wucht auf, wurde wie ein flach über das Wasser geworfener Stein wieder in die Höhe geschleudert und krachte ein zweites Mal zu Boden. Sein gewaltiger Leib riß einen Graben in die Erde, und seine noch immer weit ausgestreckten Flügel zerfetzten Büsche und knickten Bäume, ehe er mit einem furchtbaren Ruck zum Liegen kam. Kim und Peer und alle anderen wurden einfach vom Rücken heruntergeschleudert und landeten im hohen Bogen im Gras.

Stunden später froren sie noch immer erbärmlich. Kim begann erst allmählich all die Kratzer und Prellungen und Beulen zu spüren, die er bei dem Sturz davongetragen hatte, so wie alle anderen auch. Wie durch ein Wunder war niemand ernsthaft verletzt, nicht einmal Jarrn, der doch an den Drachen gekettet war. Dabei hatte die Kette seinen Sturz reichlich unsanft abgebremst. Der einzige, um den sich Kim ernsthafte Sorgen machte, war der Tatzelwurm selbst. Er lebte zwar, und seine Brust bewegte sich in mühsamen, schweren Atemzügen. Manchmal öffnete er die Augen und blickte ins Leere. Aber er reagierte nicht, als Kim ihn ansprach.

Obwohl die Sonne vom Himmel schien, trugen sie Holz und trockenes Laub zusammen und entfachten ein Feuer, um sich daran zu wärmen. Kim machte sich vor allem um die Jüngeren Sorgen; die Kälte hoch oben am Himmel war so grausam gewesen, daß es fast ein Wunder war, daß alle überlebt hatten. Und daß niemand ernsthafte Erfrierungen davongetragen hatte.

Freilich hatte Kim das Gefühl, dicht unterhalb der Haut zu einem Eisblock erstarrt zu sein. Er hielt die Hände so knapp über die heißen Flammen, daß sie fast seine Finger berührten. Auch Bröckchen kuschelte sich zitternd neben den glühenden Holzscheiten hin. Und Jarrn schlang die Arme um den Oberkörper und klapperte hörbar mit den Zähnen.

Nach einer Weile zog er eine Hand unter seinem Umhang hervor und griff nach der Kette an seinem Fuß. Sie hatten sie vom Hals des Tatzelwurms gelöst und um den Stamm eines Baumes geschlungen, so daß der Zwerg zwar ans Feuer kommen, aber nicht davonlaufen konnte. »Wann macht ihr das Ding endlich los?« fragte er. »Ich habe euch geholfen. Dir seid auf der anderen Seite der Berge, oder?«