»Und?« fragte Kim.
»Und! Und!« äffte der Zwerg ihn nach. »Warum läßt du mich dann nicht frei? Hab' ich euch etwa nicht den Weg gezeigt?«
»Schon«, antwortete Kim. »Aber doch nur, um dein eigenes Leben zu retten - nicht wahr?«
Jarrn starrte ihn wütend an.
Aber Kim wollte den Zwerg nicht gehen lassen. Jarrn war ein wenig zu fröhlich gewesen, gestern abend. Nein - der Zwerg wußte etwas. Und Kim würde ihn nicht freilassen, bevor er herausgefunden hatte, was es war.
»Du willst mich zu diesen Grasfressern bringen.«
»Ja«, antwortete Kim, ohne den Zwerg anzusehen.
»Sie werden mich umbringen«, meinte Jarrn düster.
»Das werden sie nicht«, widersprach Kim. »Ich gebe dir mein Wort, daß dir kein Steppenreiter ein Haar krümmen wird...«
»Da kommt jemand«, unterbrach sie Peer. Er deutete auf den Kamm eines Hügels. Und als Kim über die prasselnden Flammen des Feuers hinwegsah, da sah auch er zwei winzige Punkte dort: Reiter.
Die beiden fernen Gestalten blieben eine ganze Weile reglos dort oben stehen, was auch nicht weiter verwunderlich war - ein loderndes Lagerfeuer an einem warmen Sommertag war schon erstaunlich genug, aber der Anblick des Tatzelwurms, der mit weit ausgebreiteten Schwingen reglos im Gras lag, mußte sie geradezu lahmen. Und doch setzten sich die beiden nach einer Weile in Bewegung und näherten sich dem Feuer.
Kim, Peer und ein paar andere Jungen standen auf und traten ihnen fröstelnd entgegen.
Es waren ein Mann und eine Frau, beide schon älter, in grobe, schwere Kleidung aus Leder und Metall gehüllt und beide mit langen Schwertern und Bögen bewaffnet, zu denen sie gefüllte Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken trugen. Es waren eindeutig Krieger.
Der Mann ritt ein Stück zur Seite, während sie näher kamen, so daß er die kleine Gruppe am Feuer und vor allem den Tatzelwurm zusammen im Auge behalten konnte, die Frau aber lenkte ihr Pferd dicht an Kim und Peer heran und starrte eine Weile schweigend aus dem Sattel herab. »Wer seid Ihr?« Ihre Stimme klang nicht sehr freundlich.
Kim stellte sich und Peer vor, dann deutete er auf seine Gefährten, die zähneklappernd am Feuer standen. »Das sind unsere Freunde«, sagte er. »Wir ...« Er zögerte. Er wußte doch nichts von diesen Fremden. Sie waren zwar nur zu zweit, aber sie waren beide bewaffnet, und sie machten beide durchaus nicht den Eindruck, als hätten sie die mindesten Hemmungen, ihre Waffen auch zu benutzen. Auch hatten sie nicht gesagt, wer sie waren. »Wir haben noch einen Zwerg bei uns«, schloß er vorsichtig.
Das Gesicht der Frau verdüsterte sich, und ihre Hand bewegte sich rasch zum Gürtel und erfaßte den Schwertgriff. »Einen Zwerg?« fragte sie scharf. »Was habt ihr mit diesem Pack zu schaffen?«
»Nichts«, versicherte Kim rasch. »Wir und die anderen sind aus ihren Bergwerken geflohen. Diesen einen mußten wir mitnehmen.«
Die Hand der Kriegerin löste sich wieder vom Schwertgriff, blieb aber in seiner Nähe liegen. »Geflohen?« fragte sie zweifelnd. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen, Bursche. Das ist doch noch keinem gelungen.«
»Fragt den Zwerg selbst, wenn Ihr uns nicht glaubt«, meinte Peer mürrisch.
»Wir hätten es auch nicht geschafft«, fügte Kim hastig hinzu, »wenn der Tatzelwurm uns nicht geholfen hatte.« Er deutete auf den reglosen Drachen, behielt die Frau dabei aber aufmerksam im Auge. Ihr Blick glitt über den riesigen Leib, während Kim fieberhaft überlegte, wer sie sein mochte und ob sie zum Feind gehörte oder nicht. Es machte ihn krank, so denken zu müssen. Was war nur mit diesem Land geschehen, daß man darauf achten mußte, was man sagte, wenn man auf Fremde traf?
»Der Tatzelwurm?« murmelte die Frau. »Ist er das?« Die Kriegerin schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung aus dem Sattel und sagte: »Ich habe von ihm gehört. Aber man sagt, er wäre tot. Die Eisenmänner sollen ihn umgebracht haben.«
»Sie haben ihn bloß fortgebracht«, erklärte Kim. »Er war eingesperrt. Aber wir konnten ihn befreien.«
Die Zweifel auf dem Gesicht der Frau waren keineswegs beseitigt. »Ihr?« Sie blickte verächtlich auf die halbverhungerten Kinder. »Ihr wollt geschafft haben, was selbst uns nicht gelingt?«
»Wir hatten Glück.« Jetzt stieg der Mann von seinem Pferd und trat näher, schweigend und mit finsterem Blick, der deutlich sein Mißtrauen spiegelte. Kim fürchtete schon, daß ihr Landeplatz ihnen vielleicht zum Verhängnis werden könnte. Sie kehrten jetzt zum Feuer zurück. Auch die Frau war abgestiegen und betrachtete die Gesichter der Jungen und Mädchen eines nach dem anderen sehr aufmerksam, während der Mann haßerfüllt auf den Zwerg starrte, ehe er sich mit einem Ruck umwandte und auf den Tatzelwurm zuging. Er blieb in respektvoller Entfernung stehen, aber er zeigte keine Angst, sondern nur Vorsicht, immerhin war dieses Wesen groß genug, um ihn mit einer versehentlichen Bewegung zu töten.
»So, Junge«, begann die Frau, als der Krieger sich wieder zu ihr gesellt hatte. »Erzähle.«
Und Kim erzählte, wobei er sorgfältig beobachtete, wie sie das Gehörte aufnahmen. Er berichtete von seiner Gefangennahme, von der Zeit in der Zwergenschmiede und ihrer gemeinsamen Flucht. Die Fremden hörten schweigend zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen, nur als er von ihrem Flug über die Schattenberge erzählte, da runzelte die Frau zweifelnd die Stirn. Auch als Kim zu Ende gekommen war, da schwieg sie noch eine Weile, ehe sie sagte: »Und jetzt seid ihr auf dem Weg nach Westen, um euch Priwinns Heer anzuschließen?«
»Ich weiß nichts von einem Heer«, meinte Kim vorsichtig. »Wir haben nur gehört, daß er unterwegs nach Gory-Wynn ist.«
»So kann man es auch nennen«, sagte die Frau, die ihren Namen nicht genannt hatte. »König Priwinn und seine Steppenreiter haben fast überall gesiegt. Die Zwerge haben sich in Gorywynn verschanzt, und es wird ein hartes Stück Arbeit werden, sie dort herauszuholen. Zumal auch die Flußleute und eine Menge anderes Gesindel ein Heer aufgestellt haben, das auf Gorywynn zieht.«
Kim sah sie erschrocken an, und die Frau nickte düster. »Ein gewaltiges Heer. Mein Begleiter und ich sind übrigens auf dem Weg nach Westen, um uns Priwinns Armee anzuschließen.«
Sie tauschte einen Blick mit ihrem Begleiter. »Ihr könnt mit uns kommen«, sagte sie. »Ich würde euch nicht raten, mit diesem ... Ding dort weiterzureisen. Wenn die Geschichte, die du erzählst, wahr ist, dann hat es euch bisher vielleicht geholfen. Aber ihr solltet euer Glück nicht auf die Probe stellen. Verschwindet lieber, solange es noch erschöpft ist und schläft. Wenn es aber erwacht, wird es euch töten.«
»Das ist das erste vernünftige Wort, das ich heute höre«, ließ sich jetzt Jarm vernehmen, verstummte aber sofort wieder, als ihn ein eisiger Blick der Kriegerin traf.
»Ihr irrt Euch«, sagte Kim fest.
»Höre!« beschwor ihn die Frau. »Das da ist ein Ungeheuer, Junge. Es denkt und handelt anders, als du glaubst. Sei vernünftig und höre auf mich.«
Kim dachte eine Weile über die Worte der Kriegerin nach. Nicht, weil er etwa meinte, daß sie recht hatte - er wußte, daß er sich in dem Tatzelwurm nicht täuschte. So böse und zornig er war, so würde er doch niemals lügen. Er wußte gar nicht, was das Wort bedeutete, Gewalt ja, aber Lüge und Betrug waren nicht seine Sache. Ganz davon abgesehen, daß ein Wesen wie der Tatzelwurm es wirklich nicht nötig hatte, irgend jemanden zu belügen. »Wir müssen auf dem schnellsten Weg nach Gorywynn«, sagte Kim schließlich. »Und wir müssen uns beeilen. Vielleicht können wir das Schlimmste noch verhindern.«
»Was?« fragte die Frau spöttisch.
»Die große Schlacht, von der Ihr gesprochen habt«, erklärte Kim. »Es darf nicht dazu kommen.«
Die Kriegerin lachte leise. »Wie will denn ein Junge wie du so etwas verhindern?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Kim ehrlich. »Ich weiß auch nicht, ob es mir gelingen kann. Aber ich muß es zumindest versuchen.« Er blickte die Frau und ihren Begleiter nachdenklich an. »Aber vielleicht könnt Ihr die anderen Kinder mitnehmen.« Er machte eine weit ausholende Geste über die am Feuer versammelten Jungen und Mädchen. »Wir sind schneller, wenn wir nur zu dritt mit dem Tatzelwurm fliegen.«