»Du willst wirklich mit diesem Ungeheuer nach Gorywynn?« staunte die Frau. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Wie du meinst. Wir waren ohnehin unterwegs zur nächsten Stadt, um unsere Vorräte aufzufüllen. Die anderen nehmen wir gern mit. Dort werden wir jemanden finden, der dafür sorgt, daß sie alle wieder zu ihren Eltern kommen«, versprach sie. Und so verabschiedeten sich Kim und Peer von ihren Gefährten. Nur Bröckchen blieb bei ihnen - und natürlich der Zwergenkönig Jarrn.
Der Tatzelwurm brauchte den Rest des Tages und die ganze folgende Nacht, um sich von der Anstrengung zu erholen. Erst als die Sonne das nächste Mal aufging, stiegen sie wieder auf seinen Rücken, um weiter nach Westen zu fliegen. Jarrn hatten sie wieder am Halsring des Drachen angekettet, ohne auf sein wütendes Geschrei Rücksicht zu nehmen. Kim hatte nun einen Grund mehr dafür, den Zwerg mitzunehmen. Weder die Kriegerin noch ihr schweigsamer Begleiter hatten etwas über ihn gesagt, aber Kim hatte die feindseligen Blicke, mit denen sie den Zwerg musterten, sehr wohl bemerkt. Und er war nicht sicher, daß sie Jarrn am Leben lassen würden, bliebe er frei oder gar in ihrer Obhut zurück. Sie flogen jetzt nicht mehr so hoch und nicht mehr so schnell wie bei ihrem Flug über die Schattenberge, aber doch mit großer Geschwindigkeit. Der Tatzelwurm schien sich völlig erholt zu haben, denn er legte nun kaum noch Unterbrechungen ein. Nur des Nachts ruhten sie aus. Niemand näherte sich mehr dem Ungeheuer, vielmehr floh jedes Lebewesen in weitem Umkreis, wo immer es erschien. Nach zwei Tagen hatten sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt, und Kim begann allmählich zu hoffen, daß sie rechtzeitig dort eintreffen würden, um - Ja, was eigentlich?
Er gestand es sich ungern ein, aber er hatte keine Ahnung. Sicher, sie würden zu Priwinn und den anderen zurückkehren. Aber wie sollte er verhindern, daß das Furchtbare geschah: daß Märchenmond in einem Meer von Blut und Tränen ertrank. Er war gekommen, um zu helfen, aber alles war nur schlimmer geworden. Er hatte Märchenmond von einem Ende zum anderen bereist, und er war an Orten gewesen, die wohl noch keines anderen Menschen Fuß vor ihm betreten hatte. Es hatte nichts genützt; er war dem Geheimnis der verschwundenen Kinder um keinen Schritt nähergekommen. Am dritten Tag ihrer Reise begann der Tatzelwurm unruhig zu werden. Seine Bewegungen wirkten fahrig, und sein mächtiger Schädel bewegte sich unentwegt hin und her, als suche er etwas. Kim fragte ihn mehrmals danach, bekam aber keine Antwort.
Gegen Mittag überflogen sie ein brennendes Gehöft. Der Tatzelwurm glitt so hoch am Himmel dahin, daß Kim nur ein winziges rotes Glühen am Boden wahrnahm, aber sie gewahrten den Rauch, und nachdem Kim es ihm dreimal befohlen hatte, machte der Tatzelwurm endlich kehrt und sank widerwillig in großen Spiralen dem Boden entgegen. Kim spähte aufmerksam nach unten. Der Schatten des Drachens glitt mehrmals über den Hof, der in Flammen stand, und Kim sah zahlreiche Gestalten, die sich angstvoll davor duckten und in heller Panik davonliefen, als sie erkannten, wo der Drache landen würde.
Nur ein Mann mit grauem Haar und ein schlanker Junge in Kims Alter blieben zurück. Hoch aufgerichtet und gelähmt vor Angst standen sie da, als Kim den Tatzelwurm kaum hundert Meter vor der brennenden Scheune warten ließ und den Rest der Strecke zu Fuß zurücklegte.
Der Mann und der Junge blickten ihm starr entgegen. Der Junge war verletzt; seine linke Hand war übel verbrannt, und auch ein Teil seines Haares war angesengt, aber er schien den Schmerz gar nicht zu spüren. Sein Gesicht war grau vor Entsetzen, und seine Lippen zitterten. Der ältere Mann war, wie Kim vermutete, wohl sein Vater.
Kim hielt sich gar nicht erst mit langen Erklärungen auf, sondern fragte ohne Umschweife: »Was ist passiert?«
»Wer bist du?« fragte der Mann prompt zurück.
Kim machte eine ungeduldige Handbewegung. »Das tut im Moment nichts zur Sache. Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben. Was geht hier vor? Haben das die Eisenmänner getan?«
Er sah, wie der Junge beim Klang dieses Wortes unmerklich zusammenfuhr. Der Mann antwortete: »Nein. Es war ...« Er zögerte, warf einen angstvollen Blick auf den Tatzelwurm, der in einiger Entfernung dahockte und den lichterloh brennenden Hof mißtrauisch beäugte, und fuhr nach einer Pause fort: »... ein Drache.«
»Ein Drache?« wiederholte Kim erschrocken.
Der Mann nickte ein paarmal. »Ein Drache«, bestätigte er. »Er war nicht so groß wie der, den du reitest. Und nicht schwarz, sondern -«
»- von goldener Farbe?« fiel ihm Kim aufgeregt ins Wort. »Ja.« Die Furcht auf dem Gesicht des Mannes machte allmählich einer dumpfen, tiefen Verzweiflung Platz. »Woher weißt du das?«
»Ich wußte es nicht«, flüsterte Kim entsetzt. Rangarig! Der Gedanke traf Kim wie eine Ohrfeige. Es war Rangarig gewesen, der diese entsetzliche Verwüstung angerichtet hatte, da gab es gar keinen Zweifel. Es gab nur einen goldenen Drachen in Märchenmond.
»Wie kam es dazu?« fragte er leise. »Was habt Ihr getan, um ihn so zu reizen?«
»Getan?« Plötzlich lachte der Bauer schrill und hysterisch auf, als befände er sich am Rande des Wahnsinns. »Getan? Wie kommst du darauf? Nichts. Er ... er kam und griff uns an. Fast mein ganzes Vieh ist verbrannt, und daß keiner von uns getötet wurde, gleicht einem Wunder. Er verwüstet das Land seit langem, aber bisher blieben wir verschont.«
Kim schwieg. Er sagte auch nichts, um den beiden Trost oder Mut zuzusprechen, sondern drehte sich, obwohl das nicht seine Art war, wortlos um und ging mit hängenden Schultern zu Peer und dem Tatzelwurm zurück.
»Was ist los?« erkundigte sich Peer ungeduldig, als Kim stumm auf den Rücken des Tatzelwurms zurückkletterte. Seine Stimme klang besorgt, denn er hatte den bestürzten Ausdruck auf Kims Gesicht gesehen.
»Rangarig«, murmelte Kim nur.
Peer runzelte die Stirn. Natürlich hatte ihm Kim während ihrer gemeinsamen Gefangenschaft von dem Golddrachen Rangarig erzählt, von all den Abenteuern, die sie gemeinsam überstanden hatten, und auch davon, daß Rangarig ihm mehr als einmal das Leben gerettet hatte.
»Der ... der Golddrache?« fragte er deshalb ungläubig. Kim nickte.
Peer wollte etwas sagen, doch in diesem Moment lief ein Beben durch den Leib des Tatzelwurms, er bog seinen Schlangenhals weit herum, um seine Passagiere ansehen zu können. Die roten Augen loderten. »Rangarig?« donnerte er. »Er ist hier?«
Kim erschrak. Plötzlich erschien ihm die Unruhe des Tatzelwurms in einem völlig anderen Licht. Und er begriff, in welch entsetzlicher Gefahr sie schwebten. Was für eine fürchterliche Aussicht: Rangarig, der Golddrache, der das Land unsicher machte, und sein uralter Erzfeind, der Tatzelwurm, trafen durch einen Zufall aufeinander. Vielleicht war es auch gar kein Zufall; es konnte doch sein, daß sich die beiden ungleichen und doch ähnlichen Wesen finden mußten wie zwei Naturgewalten, die sich unwiderstehlich anzogen, zu dem einzigen Zweck, einander gegenseitig zu vernichten.
»Er ist nicht mehr, was er einmal war«, sagte Kim hastig. »So wenig wie du.«
»Er ist mein Feind, das genügt.« Der Tatzelwurm sprach nicht sehr laut, und in seiner Stimme war kein Zorn, nicht einmal so etwas wie eine Drohung. Aber gerade das, diese kalte Sachlichkeit, ließ Kim bis ins Innerste erschauern. »Unsinn!« piepste Bröckchen. Mit raschen Bewegungen krabbelte er unter Kims Hemd hervor und auf dessen Schulter hinauf. »Du redest Unsinn, alter Freund«, fuhr er fort. »Gut, er ist dein Feind. Na und? Ihr könnt euch gegenseitig umbringen. Aber das ist auch alles, war ihr könnt.«
»Wenn es so bestimmt ist, dann wird es geschehen«, anwortete der Tatzelwurm mit großem Ernst.