Aber Priwinn hörte seine Worte nicht. Auch wären sie schon zu spät erschollen, denn die Piraten hatten ihre Zangenbewegung fast beendet - und die durchbrochene Schlachtreihe schloß sich endgültig hinter Priwinn und den Reitern, die in seiner Nähe waren.
Schon griffen die Flußleute rücksichtslos an, entschlossen, die Schlacht auf diesem Wege doch noch zu ihren Gunsten zu wenden. Priwinn und seine Begleiter wehrten sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Übermacht. Immer drei oder vier Gegner warfen sich auf einen der Steppenreiter, aber oft war es dieser, der den ungleichen Kampf gewann. Gorg wütete wie toll unter den Angreifern und mähte gleich Dutzende von ihnen mit seiner gewaltigen Keule nieder. Aber selbst der größte Mut und die größte Kraft mußten versagen, wenn die Übermacht zu gewaltig war - und das war sie. Für jeden besiegten Flußmann schienen drei neue aufzutauchen, und die Zahl der Männer, denen sich Priwinn und seine wenigen Kampfgefährten gegenübersahen, wuchs unaufhörlich. Aus allen Richtungen strömten sie herbei, um den Ring rund um den Steppenkönig zu verstärken. So verzweifelt sein Heer auch versuchte, die Reihen der Flußleute zu durchbrechen, um ihrem Anführer zu Hilfe zu kommen, es gelang nicht. Und einer nach dem anderen sanken Priwinns Begleiter aus den Sätteln. Schließlich waren es nur noch der Steppenkönig selbst und der Riese Gorg, die sich Rücken an Rücken verteidigten; Gorg durch seine übermenschlichen Kräfte und Priwinn durch seine schwarze Zauberrüstung geschützt.
Als Kim begriff, was geschehen würde, da schrie er gellend auf, warf sich nach vorn und trat dem Tatzelwurm in die Flanken wie einem Schlachtroß, das er zu größerem Tempo anspornen wollte. Und genauso reagierte dieser auch. Vielleicht war Kims Schrei nur noch der Befehl gewesen, auf den er gewartet hatte-denn er stieß ein ungeheures Brüllen aus, entfaltete die Schwingen zu ihrer vollen Größe und stieß mit geöffneten Klauen und gierigem Rachen auf die Armee der Flußleute herab!
Hinter Kim schrie Peer irgend etwas, das er nicht verstand, Bröckchen pfiff schrill vor Entsetzen und verkroch sich wieder unter Kims Hemd, und Jarrn kreischte vor Angst und zog sich seine Kapuze über das Gesicht. Aber Kim nahm von alledem nichts wahr. Der Tatzelwurm stieß wie ein angreifender Falke vom Himmel herab und fuhr unter die Flußleute. Seine Krallen schleuderten Männer und Pferde beiseite, und seine wirbelnden Schwingen fegten gleich Dutzende Reiter aus den Sätteln. Wie ein Sturmwind durch ein Kornfeld pflügte er durch die Armee der Piraten und auf Gorg und Priwinn zu. Die Flußleute flohen in heller Panik, aber der Tatzelwurm war schneller als sie und hinterließ eine Bresche aus Tod und Vernichtung in der auseinanderspritzenden Front der Krieger. Wie ein schwarzer Dämon fegte er kaum einen Meter über dem Boden dahin, schlug und biß und schnappte dabei um sich und riß allein mit dem Sturmwind seiner peitschenden Schwingen die aus den Sätteln, die seinen Klauen im letzten Moment entkommen waren.
Auch Gorg und Priwinn bemerkten jetzt den heranrasenden Drachen, und Kim sah, wie der Riese ungläubig die Augen aufriß, als er erkannte, wer auf dem Rücken der gewaltigen Bestie saß. Aber Kim sah auch, daß der Tatzelwurm nicht haltmachen würde. Sie waren schon ganz nahe, aber der Drache flog immer schneller. Er machte keinen Unterschied mehr zwischen Freund und Feind, sondern tötete und zerfetzte alles, was sich ihm in den Weg stellte.
»Zurück!« schrie Kim seinen Freunden zu. »Bringt euch in Sicherheit!«
Priwinn stand da wie gelähmt. Er hatte das Schwert sinken lassen und blickte dem rasenden Ungeheuer fassungslos entgegen. Erst im allerletzten Moment, als Kim schon glaubte, daß er einfach überrannt werden würde, brachte sich Priwinn mit einem verzweifelten Satz in Sicherheit und entkam den schnappenden Krallen um Haaresbreite.
Der Riese Gorg hatte weniger Glück. Auch er erwachte endlich aus seiner Erstarrung und versuchte auszuweichen, aber seine Bewegung war um eine Winzigkeit zu langsam. Eine der gewaltigen Drachenschwingen traf ihn, schleuderte ihn hoch in die Luft und warf ihn wuchtig gegen den Stadtwall. Der Drache beruhigte sich noch immer nicht. Im Gegenteil, er brüllte laut und wild, seine Schwingen schlugen stärker - und dann krachte er mit entsetzlicher Wucht gegen das geschlossene Stadttor. Der Anprall ließ die mannsdicken Bohlen zerbersten wie Streichhölzer, und krachend brach das Tor in sich zusammen, während Kim und Peer im hohen Bogen vom Rücken des Untiers geschleudert wurden. Und noch während Kim stürzte, sah er, wie der Drache sich aufbäumte und schüttelte, dann auf dem Boden aufschlug, hilflos dahinrollte und schließlich mit einem unsanften Ruck an der gläsernen Mauer zum Liegen kam. Benommen richtete sich Kim auf die Knie und hob die Hände. Sein Kopf schmerzte entsetzlich. Wie durch einen grauen Nebel sah er eine Gestalt auf sich zulaufen. Er hatte einen flüchtigen Eindruck von schwarzem Metall und Leder und Fell und sah das Blitzen eines Schwertes, und er spürte mehr, als daß er es wußte - es war einer der Flußleute. Bröckchen wuselte mit einem angsterfüllten Pfeifen unter seinem Hemd hervor und brachte sich in Sicherheit, und sein bloßer Anblick schien den heranstürmenden Piraten für eine Sekunde so zu verblüffen, daß er für die gleiche Zeitspanne stockte.
Aber wirklich nur kurz. Noch ehe Kim auch nur richtig Zeit fand, einen klaren Gedanken zu fassen, packte der andere sein Schwert fester und stürzte sich schon auf ihn. Sofort warf sich Kim mit einer kraftvollen Bewegung zur Seite, daß das Schwert des Flußmannes gegen die gläserne Wand in seinem Rücken prallte und Funken daraus schlug. Er kam mit einer Rolle wieder auf die Füße und warf sich blindlings nach vorn.
Der Flußmann war größer und stärker als er, aber Kims Angriff schien ihn völlig zu überraschen. Aneinandergeklammert stürzten sie auf den Boden, rollten einige Meter dahin und trennten sich wieder.
Kim versuchte sich herumzuwerfen, aber der Flußpirat war viel schneller als er. Mit einem triumphierenden Schrei riß er sein Schwert in die Höhe, und Kim sah das Blitzen der tödlichen Klinge, in einer Bewegung, die viel zu schnell war, als daß er darauf hätte reagieren können.
Aber der tödliche Schlag kam nicht. Statt dessen schoß ein roter Federball auf den Mann zu, prallte mit einem sonderbar weichen Geräusch gegen seinen Nacken und biß sich darin fest.
Der Flußpirat taumelte, mehr vor Überraschung, als daß Bröckchens Angriff ihn etwa wirklich aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, griff nach hinten und zerrte das Wertier mit einem Schrei von sich herunter, um es in hohem Bogen von sich zu schleudern.
Aber diese Ablenkung hatte gereicht. Kim sprang in die Höhe und versetzte dem Mann einen Stoß, der ihn vollends aus dem Gleichgewicht brachte. Der Krieger schrie auf, stürzte und ließ sein Schwert fallen. Noch bevor er sich wieder in die Höhe stemmen konnte, zischte ein gelb- und grüngefiederter Pfeil dicht über Kims Rücken hinweg und durchbohrte den Flußpiraten.
Kim wandte sich hastig um und hielt nach Bröckchen Ausschau. Das kleine Wertier trippelte taumelnd heran. Es war unverletzt, wirkte aber ein bißchen benommen.
»Alles in Ordnung?« erkundigte sich Kim.
»Klar«, antwortete Bröckchen. »Da muß schon mehr kommen als so ein Kerl von einem Fischfresser, um mir Angst einzujagen.«
Der Kampf war bereits wieder in vollem Gange. Der Angriff des Tatzelwurms hatte jedoch das Blatt gewendet. Wohin Kim auch blickte, drehten sich die Flußleute um und suchten ihr Heil in der Flucht. Priwinns Reiter verfolgten sie und machten sie erbarmungslos nieder, wo immer sie ihrer habhaft werden konnten. Was als ein verbissenes Ringen um den Zugang zur Stadt begonnen hatte, das wurde jetzt zu einem panischen Gerenne. Die gewaltige Armee der Flußpiraten begann sich in alle Richtungen aufzulösen. Und plötzlich, beinahe gegen seinen Willen und ohne daß er es recht begriff, hielt auch Kim ein Schwert in der Hand und fand sich inmitten des Kampfgetümmels. Der Tatzelwurm tobte wieder wie ein schwarzer Dämon unter den Flußleuten. Rechts und links, davor und dahinter und sogar unter ihm wogte die Schlacht mit unverminderter Wut. Kim wehrte den Schwerthieb eines Flußmannes ab, der unvermittelt aus dem Rauch vor ihm aufgetaucht war, versetzte dem Angreifer einen schmerzhaften Schnitt in den Oberschenkel und schleuderte ihn mit einem Fußtritt zu Boden, als der andere seine Waffe fallen ließ und sich krümmte. Wild sah sich Kim nach Priwinn und dem Riesen um, konnte sie aber in dem allgemeinen Durcheinander nirgendwo entdecken, und so arbeitete er sich abwechselnd kämpfend und hakenschlagend in Richtung des zertrümmerten Tores vor, wo der Kampf mit der größten Verbissenheit entbrannt war.