Das sollte sich aber ändern, als sie die Turmkammer erreichten, in der sie Themistokles vor so langer Zeit zurückgelassen hatten.
Vor der Tür standen zwei Flußmänner mit gezückten Waffen, und zwischen ihnen, wie ein kantiger Alptraum aus poliertem Stahl, stand die gigantische Gestalt eines Eisenmannes. »Keinen Schritt weiter!« sagte der eine. Sein Blick wanderte einen Moment unentschlossen zwischen Kim und dem Steppenkönig hin und her, dann wandte er sich an letzteren. »Keinen Schritt weiter, König Priwinn, sonst werden wir den Zauberer töten.« Und der andere fügte kalt hinzu: »Falls Ihr uns nicht glaubt: Seht her!«
Er stieß die Tür auf, so daß sie in den dahinterliegenden Raum blicken konnten. Und was sie sahen, das entrang ihnen einen entsetzten Aufschrei.
Themistokles saß aufrecht auf seinem Stuhl neben dem Fenster, aber sie erkannten ihn kaum wieder. Ein uralter, zitternder Greis mit faltigem Gesicht und trübe gewordenen Augen, dessen Haar in langen Strähnen über seine Schultern und vor dem Gesicht herabfiel, und der kaum noch die Kraft zu haben schien, sich auf dem Sitz zu halten. Er war mit einer dünnen, schwarzen Kette aus Zwergenstahl angebunden. Hinter dem Stuhl stand ein Eisenmann, und seine gewaltige Linke war in einer drohenden Geste nach Themistokles ausgestreckt. Das unheimliche grüne Auge schien spöttisch zur Tür zu funkeln.
»Was soll das?« fragte Priwinn scharf, senkte aber gehorsam das Schwert. »Ihr wißt, daß ihr verloren habt.«
»Das mag sein«, antwortete einer der Männer ruhig.
»Oder auch nicht, wie Ihr seht.«
Er zuckte mit den Schultern und fuhr im gleichen, fast gelassenen Tonfall fort: »Es hängt davon ab, was Euch das Leben des Zauberers wert ist.«
Kim trat einen halben Schritt zurück und zur Seite, so daß er unmittelbar hinter Priwinn stand. Der Krieger sah ihn einen Moment lang mißtrauisch an, konzentrierte sich aber dann wieder ganz auf Priwinns Gesicht, und Kim brachte das Kunststück fertig, Priwinn ins Ohr zu flüstern, ohne dabei auch nur im mindesten die Lippen zu bewegen: »Halt sie irgendwie hin. Ich bin gleich zurück.«
Dann wich er, Schritt für Schritt rückwärts gehend, zurück, bis er unter den Füßen die erste Stufe der Treppe spürte, fuhr herum und rannte, immer zwei, drei, ja sogar vier Stufen auf einmal nehmend, wieder den Turm hinunter und aus dem Palast hinaus.
So schnell er nur konnte, hetzte er den Weg zurück, den sie gekommen waren, und erreichte schließlich das Tor. Er war so erschöpft, daß er mehrmals stolperte und stürzte, und es fiel ihm schwer, wieder aufzustehen und weiterzurennen. Sein Herz hämmerte so hart, daß es weh tat, und er fürchtete schon, in wenigen Augenblicken einfach zusammenzubrechen. Trotzdem - jede Sekunde war kostbar und konnte über Leben und Tod des alten Magiers entscheiden. Dabei waren es weniger seine Bewacher, die Kim fürchtete. Es war Priwinn! Er hatte den Ausdruck in seinen Augen gesehen, als er den gefesselten Magier anblickte. Kim wußte, der Steppenkönig würde eine Menge tun, um Themistokles' Leben zu retten. Aber er würde nicht den Sieg dafür hergeben!
Mehr torkelnd als rennend schoß Kim aus dem Stadttor und sah sich um. Zu seiner unendlichen Erleichterung entdeckte er den Tatzelwurm fast genau dort, wo er ihn zuletzt gesehen hatte.
Der Drache hatte aufgehört zu toben und saß starr und wie gelähmt da. Seine feuerroten Augen blickten haßerfüllt auf die Menschen herab, die ihn in einem weiten, respektvollen Kreis umgaben und mit einer Mischung aus Furcht und Neugier auf ihn starrten. Nur manchmal stieß er ein tiefes, grollendes Knurren aus und bleckte die Zähne.
Kim stolperte abermals, fiel auf die Knie und blieb keuchend und mit geschlossenen Augen hocken, bis er überhaupt die Kraft fand, aufzustehen. Wie ein Betrunkener hin- und herschwankend, kämpfte er sich durch die Gaffer. Eine Hand griff nach ihm und wollte ihn zurückreißen, als er sich ganz vorne zwischen ihnen hindurchzwängte, um auf den Tatzelwurm zuzulaufen, aber Kim entschlüpfte ihr, lief weiter und ließ den Chor aus entsetzten Stimmen hinter sich.
Der Kopf des Drachen ruckte herum. Für einen Moment flammte in seinen Augen pure Mordlust auf, aber dann erkannte er Kim, und aus dem bodenlosen Haß in seinem Blick wurden Zorn und Verwirrung - und so etwas wie ein Vorwurf, den Kim nicht verstand, der ihm aber sehr weh tat. Als er näher kam, sah er, daß der Drache verletzt war. Selbst seine dicke Haut hatte dem Bombardement aus Steinen und Speeren und Pfeilen auf Dauer nicht standhalten können. Er blutete aus zahllosen Wunden, von denen einige sehr schwer zu sein schienen. Eine seiner riesigen Schwingen hing herab, als hätte er nicht mehr die Kraft, sie an den Körper zu falten. Aber Kim achtete im Moment darauf nicht weiter, sondern lief direkt zwischen den Vorderpfoten des Tatzelwurms hindurch, sprang mit einem Satz auf seinen Rücken hinauf und beugte sich über das wimmernde Bündel, das sich im Nacken des Riesendrachen zusammengekrümmt hatte.
Kim spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust, als er sah, in welch erbärmlichem Zustand sich der Zwergenkönig befand. Anders als Peer und Kim war er nicht heruntergeschleudert worden, denn er war ja noch immer mit der Kette an seinen Hals gebunden. So hatte er die ganze, fürchterliche Wucht des Anpralls mitbekommen, mit dem der Tatzelwurm das Stadttor zerschmettert hatte. Zuerst fürchtete Kim schon, der Zwerg wäre tot, denn er regte sich gar nicht, als er ihn auf den Rücken drehte und seine Kapuze zurückschlug. Dann aber öffnete Jarrn mühsam die Augen, blinzelte Kim an, ohne ihn wirklich zu erkennen, und gab ein leises, gequältes Stöhnen von sich.
»Es tut mir leid«, murmelte Kim, und er meinte diese Worte wirklich ernst. Denn obwohl Jarrn einen guten Teil zu dem Unglück hier beigetragen haben mochte, so hatte Kim doch gleichzeitig das Gefühl, daß der Zwergenkönig von allen vielleicht noch der Unschuldigste war. Er verscheuchte diesen sonderbaren Gedanken, griff unter den Gürtel und suchte den Schlüssel heraus. Seine Hände zitterten leicht, als er die Kette an Jarrns Fußgelenk löste, und der Zwerg stöhnte vor Schmerz, als er ihn auf die Arme hob und behutsam aufrichtete.
»Es wird schon wieder gut, Jarrn«, sagte er, während er vorsichtig den Rücken des Tatzelwurms entlangbalancierte und nach einer Stelle suchte, an der er hinuntersteigen konnte, ohne mit dem Gewicht des Zwerges auf den Armen das Gleichgewicht zu verlieren. »Wir werden dich verarzten. Aber zuerst mußt du uns helfen.«
»Helfen?« stöhnte Jarrn. »Du bist... tatsächlich ... so bescheuert ... wie ich immer gedacht habe. Wobei sollte ich dir noch helfen?«
Kim ersparte sich eine Antwort, kletterte vorsichtig vom Rücken des Tatzelwurms herab und lief den Weg zurück. Die Reihen der Umstehenden teilten sich vor ihm, als er mit dem Zwerg auf den Armen auf sie zustürmte, und verwunderte Blicke und Ausrufe folgten ihm. Diesmal versuchte niemand, Kim aufzuhalten. Unbehelligt erreichte er das Tor, überquerte den großen Platz dahinter und machte sich zum zweitenmal auf den Weg zum Burgschloß.
Er war nun am Rande der Erschöpfung und trug noch dazu den Zwergenkönig auf seinen Armen. Einige Male übermannte ihn die Schwäche mit solcher Macht, daß er sich gegen eine Wand lehnen mußte, um neue Kräfte zu schöpfen. Einmal ließ er Jarrn sogar fallen. Der Zwerg prallte mit einem dumpfen Laut auf dem gläsernen Straßenpflaster auf und begann sofort, in altgewohnter Manier zu schimpfen. Keuchend hob ihn Kim wieder hoch und taumelte weiter. Als er den Eingang des Palastes erreichte, trat ihm ein Steppenreiter entgegen und wollte ihm grimmig den Zwerg abnehmen, aber Kim schüttelte nur den Kopf und ging an ihm vorbei. Stufe für Stufe quälte er sich die gewaltige Wendeltreppe zur Turmkammer hinauf und blieb erst stehen, als er dicht unterhalb der letzten Windung angelangt war; noch zwei oder drei Stufen, und er war da. Schon konnte Kim die Stimmen hören. Er verstand die Worte nicht, aber es klang nach einem scharfen Wortwechsel. Behutsam lud er Jarrn ab, ließ sich neben ihn auf die gläserne Stufe sinken und verbarg erschöpft für einen Moment das Gesicht zwischen den Händen.