Fast überall im Lande waren die Eisenmänner verschwunden und die meisten der vermißten Kinder zu ihren Familien zurückgekehrt. Zu Kims - und noch viel mehr Themistokles' - großer Trauer nicht alle. Auf manchem Gehöft, in manchem Dorf und mancher Stadt sah man auch jetzt noch einen der Roboter Arbeiten verrichten, denn die Herzen mancher Menschen waren so hart geworden, daß sie nicht mehr anders konnten. Aber es wurden weniger, mit jedem Tag, und wie Themistokles versichert hatte, kam nicht ein einziger mehr dazu.
Kim und Priwinn hatten die Zeit genutzt, gemeinsam ihre Freunde überall im Land zu besuchen und sich mit ihnen an ihrer zurückgewonnenen Zukunft zu erfreuen. Kim hatte Peer wiedergesehen und auch eine Weile auf Caivallon verbracht, der Festung der Steppenreiter, über die Priwinn nun als König herrschte; kein Junge mehr, der niemals alterte, sondern ein junger Mann, der Kims Freund war und dies auch bleiben würde. Er hatte Brobing und Jara besucht und ihnen schweren Herzens Sternenstaub zurückgebracht. Er sollte Torum gehören, und Torum war jetzt wieder da. Allen blieb noch genug zu tun. Die Wunden, die die Bewohner Märchenmonds ihrer eigenen Welt geschlagen hatten, waren groß und würden nicht von selbst verheilen. Sie zu beseitigen würde ungleich mehr Mühe und Kraft kosten, als die Zerstörung gekostet hatte. Und doch wußte Kim, daß es gelingen würde. Jetzt, wo es wieder eine Zukunft gab, hatten die Völker Märchenmonds auch wieder etwas, wofür es sich zu leben lohnte. Vielleicht würden sie aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, so daß nie wieder eine Zeit anbrechen mochte, in der eiserne Pferde die Felder pflügten und die Kinder verschwanden, weil die Träume verlorengingen und die Herzen zu Stein wurden.
Als Kim zu spüren begann, daß sich sein Aufenthalt auf Märchenmond dem Ende zuneigte, da hatte er Priwinn gebeten, ihn nach Gorywynn zu begleiten, damit er sich von Themistokles verabschieden konnte. Und der neue König von Caivallon hatte seine Geschäfte einem Stellvertreter übertragen, um den Freund zu begleiten. Doch zu Kims Überraschung hatte sie kein Pferd und kein Floß erwartet, sondern Rangarig, der goldene Drache, der wieder zu sich selbst gefunden hatte (ebenso übrigens wie der Tatzelwurm, der nun wieder in seinem See im Norden hockte und Gift und Galle spuckte, wenn man sich ihm näherte). Auf den Schwingen des riesigen Zauberwesens waren sie hierhergeflogen, und nun stand Kim zum letztenmal hoch über den Türmen Gorywynns und blickte auf die Häuser und Mauern aus Glas und gefangenem Licht herab. Sie hatten über dies und das geredet, aber sowohl Themistokles als auch Priwinn schienen zu ahnen, was vorging, denn Trauer und Schwermut erfaßte sie. So standen sie einfach in vertrautem Schweigen nebeneinander, während der Kater Sheera unruhig um ihre Beine strich. Einzig Bröckchen war vorlaut wie immer und maulte, daß er hungrig sei - was Kim durchaus verstehen konnte. Die letzte Mahlzeit lag gut zwei Stunden zurück, und seines Wissens nach hatte Bröckchen dabei nicht einmal ein ganzes Wildschwein verputzt. Der arme Kerl mußte vor Hunger beinahe sterben.
»Wirst du wiederkommen?« fragte Priwinn plötzlich. Kim zuckte nur mit den Schultern. »Ich hoffe es«, sagte er. Und dann hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung hinzufügen: »Aber vielleicht sollte ich das gar nicht.«
»Wieso?« Priwinn sah verwundert auf.
»Nun, ich war immer nur hier, wenn... etwas Schlimmes geschah«, meinte Kim stockend.
»Wie kommt es, daß ich stets nur dann in die Welt der Phantasie reise, wenn sie in Gefahr schwebt?«
Priwinn sah betroffen aus, aber Themistokles lächelte und schüttelte sanft den Kopf. »Es ist nun einmal die Art der Menschen, daß sie das, was sie besitzen, erst dann wirklich schätzen, wenn sie es zu verlieren drohen. Aber die Welt der Phantasie ist immer da. Sie ist in euch, so wie ihr in dieser Welt seid. Ihr merkt es nur nicht.«
Kim dachte eine Weile über diese Worte nach, und schließlich glaubte er zu verstehen, was Themistokles meinte.
Lächelnd wandte er sich um und ging in das angrenzende Zimmer zurück. Es war die Turmkammer, in der sie zuletzt mit dem König der Flußleute zusammengetroffen waren. Die drei Schwerter lagen noch immer dort auf dem Tisch, wo sie sie hingelegt hatten, unberührt. Und sie würden unberührt bleiben, die beiden gekreuzten unversehrten Schwerter, und die zerbrochene Klinge, als ein Symbol, daß die Waffe keine Lösung war und keine Feindschaft so groß, daß man sie nicht überwinden konnte. Kim dachte ein wenig traurig an Jarrn, den Zwergenkönig. Mit den Eisenmännern waren auch die Zwerge verschwunden, und es tat ihm ein wenig leid um das kleine, kecke Volk, das von allen nur angefeindet worden war. Vielleicht gab es sie noch irgendwo und kamen sie eines Tages wieder, um andere, nützliche Dinge zu schmieden, Dinge, die halfen, ohne anderen zu schaden. Kim drehte sich herum, um Themistokles danach zu fragen, aber da waren die Wand, der gläserne Balkon und der Himmel über Gorywynn verschwunden, und an ihrer Stelle fand er sich in einem winzigen Zimmer wieder. Durch die Streifen einer halb heruntergelassenen Jalousie fiel wenig graues Licht herein.
Erschrocken fuhr er herum - und stieß unsanft an einen Gegenstand, der unter seinem Anprall hörbar knirschte und klirrte. Kim streckte schützend die Hand aus, da fühlte er kaltes, glattes Glas.
Einen Augenblick später rumorte es neben ihm, und dann wurde eine kleine Lampe angeknipst. Das verschlafene Gesicht seiner Schwester Rebekka hob sich aus den Kissen und blinzelte zu ihm auf. »Was willst du?« maulte Becky. »Laß mich schlafen. Was tust du überhaupt hier?« Sie schloß die Augen und schlief wieder ein, ehe Kim noch antworten konnte - was er aber ganz bestimmt nicht getan hätte.
Er war wieder zu Hause. Und verwirrt stellte er fest, daß er genau dort stand, wo alles begonnen hatte - im Zimmer seiner Schwester, direkt neben dem Terrarium, durch das zwei winzige, rot-grün gemusterte Miniatureidechsen hin-und herflitzten, aufgescheucht durch den unsanften Stoß, den Kim versehentlich ihrer Behausung versetzt hatte. Seltsam - er spürte überhaupt keine Enttäuschung. Es erschien ihm selbst unglaublich, aber alles, was er empfand, war bloß eine ganz leise Wehmut. Vielleicht war es wirklich so, wie Themistokles gesagt hatte: Märchenmond war immer in ihm, so wie er in gewisser Weise immer dort war. Vorsichtig, um Rebekka nicht noch einmal zu wecken, ging Kim zur Tür, öffnete sie, und trat auf den Korridor hinaus. Die Nacht war beinahe vorüber. Im Treppenhaus hatte sich bereits das graue Licht der Dämmerung breitgemacht, und aus dem Erdgeschoß hörte er die gedämpften Stimmen der Eltern. Kim wollte in sein Zimmer zurückgehen, begriff aber dann, daß er jetzt doch nicht mehr schlafen konnte, und wandte sich schließlich zur Treppe.
Als er halb im Erdgeschoß angekommen war, vernahm er, daß sein Vater mit jemandem am Telefon sprach. Als Kim ins Wohnzimmer trat, hängte er eben den Hörer ein. Er staunte nicht wenig, als er seinen Sohn zu dieser ungewohnt frühen Stunde - und dazu noch komplett angezogen - erblickte. Aber er sagte nichts dazu, sondern tauschte nur einen überraschten Blick mit Kims Mutter und deutete dann mit einer Kopfbewegung auf das Telefon.
»Weißt du, wer das war?« sagte er.
Kim hatte eine ungefähre Ahnung, aber er schüttelte den Kopf und spielte den Unwissenden.
»Es war die Polizei.« Das Gesicht von Kims Vater verdüsterte sich, er dachte wohl an die Szene vom vergangenen Abend. Aber seine Stimme klang eher erstaunt als zornig, während er fortfuhr: »Der Kommissar wollte heute nachmittag noch einmal kommen, um dir ein paar Fragen zu stellen.«
»Aber worüber denn?« fragte Kim. »Ist denn etwas passiert?«