Eine Sekunde lang starrte Kim das Tier aus ungläubig aufgerissenen Augen an, hin und her gerissen zwischen Zorn und Verblüffung über die Dreistigkeit dieses lebenden Nadelkissens, das einen Gegner von Kims Größe angreifen wollte. Dann war das Tier heran und biß Kim so heftig in den Zeh, daß er den Schmerz durch den Turnschuh spürte und mit einem abermaligen Schrei zurückprallte. Ohne nachzudenken, gab er dem Tier einen Tritt, der es hilflos davonkollern ließ, dabei verlor er selbst das Gleichgewicht und landete unsanft auf dem Hosenboden.
Aber als das Tier erneut heranstürmte, war er vorbereitet. Kim ballte die Faust und spannte die Muskeln zu einem Hieb, der es auf der Stelle zermalmen mußte.
Als spüre es die Gefahr, brach das Monster im letzten Moment seinen Angriff ab und legte den Kopf schräg. Seine Augen blitzten tückisch, aber auch sehr vorsichtig.
»Komm nur her!« sagte Kim. »Auf einen wie dich habe ich gerade gewartet.«
Klein-Ekel gab einen unangenehmen, zischelnden Laut von sich und sabberte wieder. Seine winzigen Krallen gruben sich in den sumpfigen Boden.
»Was willst du?« fragte Kim herausfordernd. »Komm nur her und hol dir eine Tracht Prügel, oder hau ab!« Er griff nach einem Stein.
»Hunger!« sagte das Tier.
Kim riß die Augen auf. »Wie?«
»Hunger«, wiederholte das Mini-Monster. »Du bist groß - und ich hab einen großen Hunger.«
Kim schluckte, starrte auf das stachelige Wesen zu seinen Füßen herab und dann auf seinen Zeigefinger. Die winzigen Zähne des Biestes hatten eine doppelte Reihe nadelspitzer, blutender Pünktchen in seiner Haut hinterlassen. Und die Wunden brannten, als hätte jemand Salz hineingerieben.
»Nur ein Stück!« bettelte das Tier. Es schniefte hörbar, sagte noch einmal mit weinerlicher Stimme: »Hunger!«, während sich seine Augen tatsächlich mit Tränen füllten. »Mich kann man nicht essen«, erklärte Kim hastig und schob seinen blutenden Finger in den Mund. »Ich schmecke scheußlich!«
»Du lügst«, behauptete das Nadelkissen-Tier.
»Ach?« fragte Kim lauernd. »Wieso?«
»Du ißt dich doch selbst!«
Kim blinzelte, nahm verblüfft den Finger wieder aus dem Mund und mußte plötzlich lachen. Das Tier fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und kroch wieder ein Stückchen näher, wobei es Kims rechtes Hosenbein vom Knie bis zur Tasche vollsabberte.
»He!« protestierte Kim. »Paß doch auf, was du da tust!« Er versuchte das Wesen zur Seite zu schieben, zog die Hand aber im letzten Moment wieder zurück, als er es in seinen Augen gierig aufblitzen sah.
»Jetzt hör mir mal zu«, begann er. »Ich habe was dagegen, aufgegessen zu werden, kapiert?«
»Nicht ganz aufessen«, versicherte Klein-Ekel. »Nur ein Stück. Ein ganz kleines.« Seine Augen erinnerten plötzlich an die eines hilflosen Rehkitzes, das einen Menschen um ein Stück Zucker anbettelt. »Nur einen Finger«, bettelte es, »Oder einen halben?«
»Nein!« rief Kim, der sich zwischen Lachen und Zorn hin und her gerissen fühlte. »Nicht einmal einen Viertel! Nicht einmal den Fingernagel, ist das klar?«
Kim stand auf und ballte die rechte Hand zur Faust, denn der Finger schmerzte noch immer höllisch.
»Dann vielleicht einen Zeh?« fragte das Tierchen hoffnungsvoll. Kim wollte wütend werden - aber wieder konnte er nicht anders: er platzte einfach heraus und begann schallend zu lachen, bis er keine Luft mehr bekam. Noch immer kichernd und glucksend ließ er sich vor dem Tierchen in die Hocke sinken und betrachtete es kopfschüttelnd, während er sich mit der linken Hand die Tränen aus den Augen wischte. »Hast du was?« fragte das Tier. »Warum schreist du so?«
»Ich schreie nicht«, versicherte ihm Kim. »Das hört sich nur so an... Wer bist du überhaupt?«
»Ich?« Das Tierchen schien einen Moment lang ernsthaft über den Sinn dieser Frage nachzudenken. »Ich«, sagte es schließlich. »Ich bin ich. Wer soll ich denn sonst sein?«
»Geschieht mir recht«, murmelte Kim. »Blöde Fragen kriegen blöde Antworten, nicht wahr?« Er seufzte. »Mein Name ist jedenfalls Kim. Vielleicht hast du ja schon einmal von mir gehört?« fügte er hoffnungsvoll hinzu.
»Nein«, antwortete sein Gegenüber. »Und gekostet habe ich dich auch noch nicht. Ich könnte mich an den Geschmack erinnern. Bestimmt.«
»Ja, bestimmt«, pflichtete ihm Kim bei und erhob sich wieder. »Ich muß jetzt gehen. Ich habe noch einen weiten Weg vor mir. Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen.« Und damit wandte er sich um und ging mit raschen Schritten davon. Noch herrschte tiefe Nacht, aber Kim war überhaupt nicht mehr müde. Außerdem hätte er sowieso nicht mehr schlafen können - nicht in einer Gegend, in der man damit rechnen mußte, stückweise aufgegessen zu werden, wenn man nicht aufpaßte.
Den Weg durch den nachtdunklen Sumpf zu finden, erwies sich als schwieriger, als Kim gedacht hatte. Immer wieder stolperte er über eine Wurzel, die er in der Dunkelheit nicht rechtzeitig sah, trat in jäh aufklaffende Sumpflöcher und knallte zweimal mit der Stirn gegen einen Baumstamm, der scheinbar aus dem Nichts vor ihm auftauchte. Sein Mut sank. Und ein Blick in den Himmel machte ihm klar, daß mit dem Tagesanbruch noch lange nicht zu rechnen war. Überhaupt kam ihm die Landschaft, durch die er wanderte oder eigentlich stolperte, immer unheimlicher vor. Der Sumpf dehnte sich, soweit das Auge reichte, die Bäume und das Buschwerk wirkten allesamt irgendwie krank und verkrüppelt. Aber was hatte Kim erwartet? Das hier mochte ein Teil von Märchenmond sein, aber es war das Land der Schuppentiere. Eigentlich sollte er froh sein, daß sich seine Schwester Rebekka ein Terrarium und Leguane gewünscht hatte und nicht etwa eine langbeinige, pelzige Spinne - oder gar Fische ...
Als Kim sich nach einer Welle zufällig umdrehte, sah er einen winzigen Schatten, der mit lautlosen Bewegungen hinter ihm herhuschte. Mit einem Ruck blieb Kim stehen und runzelte verärgert die Stirn, als er in ein Paar trüber, viel zu groß geratener Glubschaugen blickte, die er nun schon kannte.
»Was soll das?« fragte er verärgert. »Wieso läufst du mir nach?«
»Hunger«, bettelte das kleine Tier störrisch. Kim seufzte. Das Scheusal blickte ihn treuherzig an. »Vielleicht ein Ohr?«
»Nein!« brüllte Kim, so laut er nur konnte. Wütend trat er auf das Tier zu, besann sich aber im letzten Moment. »Warte mal«, sagte er. »Du hast großen Hunger, sagst du?«
Das Tierchen nickte heftig und huschte auf ihn zu.
»Hör zu«, sagte Kim. »Hier sind doch überall Seen und Tümpel, nicht wahr? Ich bin sicher, daß es darin Fische gibt. Magst du Fisch?«
»Klar.«
»Und du kennst dich hier in der Gegend aus?« fragte Kim.
»Freilich.«
»Dann mache ich dir einen Vorschlag«, sagte Kim. »Sobald es hell ist, fange ich einen großen, saftigen Fisch für dich, das verspreche ich dir.«
»Einen großen? Nur für mich?«
»Ganz allein für dich«, versicherte Kim. »Ich will nicht eine Schuppe davon abhaben. Dafür zeigst du mir jetzt den Weg hier heraus. Ich suche ... meinesgleichen. Verstehst du?«
»Solche wie dich?« wiederholte das Monsterchen.
»Genau«, antwortete Kim. »Wesen wie mich, die sich nicht fressen lassen wollen. Weißt du, wo ich sie finden kann?«
»Sicher. Ist nicht einmal mehr weit. Aber erst den Fisch.« Kim seufzte. »Können wir nicht warten, bis es hell ist?« fragte er. »Ich meine - du scheinst im Dunkeln ja ausgezeichnet zu sehen, ich leider nicht.«
»Das habe ich gemerkt«, antwortete das Tier. »Du bist gerade fast ins Loch eines Schnappers gefallen.«