Kim verzichtete vorsichtshalber darauf, zu fragen, was ein Schnapper war. Die Antwort hätte ihm bestimmt nicht gefallen. »Also abgemacht?« fragte er. »Ich besorge dir den Fisch, sobald es Tag ist, und du zeigst mir den Weg hier heraus.«
»Abgemacht«, nieste das Tier.
Kim richtete sich wieder auf, bevor er aber weiterging, wandte er sich noch einmal an seinen Begleiter. »Wenn wir schon zusammen wandern, dann brauchst du einen Namen«, sagte er. »Wie soll ich dich nennen?«
Das kleine Stacheltier blickte ihn verstört an, und Kim begriff. »Okay, okay«, sagte er hastig. »Ich denke mir einen aus.« Plötzlich grinste er über das ganze Gesicht. »Du bist häßlich wie die Nacht, weißt du das eigentlich? Ich denke, ich werde dich Bröckchen nennen.«
»Bröckchen?«
»Das ist die Koseform von Kotzbrocken. Paßt irgendwie zu dir. Einverstanden?« antwortete Kim kichernd.
Das Tier überlegte kurz, nickte dann und kroch eifrig mit kleinen trippelnden Schritten über Kims Füße hinweg, wobei es seine Turnschuhe bis zu den Knöcheln mit grünem Schleim vollschmierte.
Kim machte sich schon das erste Licht der Dämmerung zunutze, um aus einigen ausgerissenen Gräsern und dünnen Zweigen eine provisorische Angelschnur zu flechten. Das war leichter gesagt als getan, aber Kim war geschickt, und nach einigem Herumprobieren brachte er eine etwa drei Meter lange, geflochtene Schnur zustande, die ihm für sein Vorhaben geeignet schien; schließlich hatte er nicht vor, einen Walfisch zu fangen, sondern nur etwas, das ausreichte, seinen gefräßigen Begleiter satt zu kriegen. Ein wenig mehr Schwierigkeiten bereitete ihm der Angelhaken, aber er behalf sich schließlich, indem er seinen Gürtel auseinandernahm und die Schnalle an einem Stein umbog. Er schliff sie so scharf, wie er konnte. Bröckchen saß die ganze Zeit daneben und beobachtete ihn aus seinen hervorquellenden Augen, sagte aber nichts mehr - wofür ihm Kim dankbar war. Einer der Gründe, warum er schon jetzt damit begonnen hatte, eine Angebrute zu bauen, war der, daß er mittlerweile selbst hungrig war. Der andere - und viel gewichtigere - Grund aber war, daß das kleine Ekel während der vergangenen Stunden nicht aufgehört hatte, ihm zu versichern, wie hungrig es war, und fortgefahren war, ihn um ein Ohr, einen Finger oder einen Zeh anzubetteln. Kim war am Ende seiner Geduld, und wer weiß, was er womöglich noch dafür gegeben hätte, nur damit dieses elende Plappermaul endlich die Klappe hielt.
Aber soweit kam es nicht. Sein vierbeiniger Gefährte führte ihn zu einem kleinen, aber offensichtlich sehr tiefen Tümpel, und Kim hatte seine selbstgebastelte Angel kaum ausgeworfen, als auch schon ein silberner Schemen dicht unter der Oberfläche des schlammigen Wassers heranschoß und so heftig an der Leine riß, daß Kim um ein Haar kopfüber in den Tümpel gestürzt wäre.
Trotzdem hielt er die Leine eisern fest, und zu seiner Verwunderung hielt sie sogar, obwohl er einen sehr großen Fisch erwischt zu haben schien. Das Wasser sprudelte und schäumte am Ende der Angelschnur, während sich sein Fang verbissen zur Wehr setzte. Und mehr als einmal glaubte Kim, daß seine Kräfte versagten und er wieder loslassen müßte. Bröckchen flitzte während der ganzen Zeit unentwegt aufgeregt vor ihm hin und her, fuhr sich gierig mit der Zunge über die pickeligen Lippen und besprenkelte Kim mit Geifer und grünem Schleim. Schließlich wurde es ruhig am Angelhaken. Keuchend vor Anstrengung zog Kim den Fang aus dem Wasser. Es war wirklich ein riesiger Fisch - fast so lang wie sein Arm und sicherlich fünfzehn Pfund schwer, und seine Augen schienen Kim vorwurfsvoll und verwirrt anzublicken. Vielleicht, dachte Kim mit einem Gefühl von Betroffenheit, war das die erste Angelrute gewesen, die es in dieser Welt hier gab.
Er verscheuchte den Gedanken, zog den Fisch mit einer letzten Anstrengung ans Ufer und hob einen Stein auf, als das Tier heftig mit Schwanz und Flossen zu schlagen begann. »Was tust du da?« erkundigte sich Bröckchen. »Ich erlöse ihn von seinen Leiden«, antwortete Kim. »Das macht man als Angler so. Oder soll ich warten, bis er qualvoll an Land erstickt ist?«
Bröckchen antwortete nicht, sah ihm aber aufmerksam zu, während Kim tat, was er tun mußte, um sich schließlich schwer atmend und mit einem leichten Gefühl von Übelkeit im Magen wieder aufzurichten. Er war mit seinem Vater schon oft Angeln gewesen, aber diese unangenehme Arbeit hatte er immer ihm überlassen.
»Du hast ihn erschlagen«, meinte Bröckchen vorwurfsvoll - was ihn aber nicht davon abhielt, gleich darauf das Maul aufzureißen und ein gewaltiges Stück aus dem Fisch herauszubeißen.
»Du wolltest ihn doch, oder?« erwiderte Kim gereizt. »Aber doch nicht ganz!« antwortete Bröckchen mit vollem Maul. »Ein Stück hätte gereicht.« Er schluckte, biß ein weiteres Stück aus der Flanke des Fisches und sah Kim mit schräggehaltenem Kopf an. »Hättest du mich auch erschlagen, gestern abend?« fragte er. Kim war ein bißchen verlegen. »Warum ... fragst du das?« fragte er.
Bröckchen deutete auf den Stein, den Kim wieder fallen gelassen hatte. »Du hattest auch einen Stein in der Hand.«
»Das... das war doch etwas ganz anderes«, stotterte Kim. »Wieso?«
»Nun, ich ...« Kim suchte einen Moment vergeblich nach den richtigen Worten. »Das ... das war ... du bist so häßlich, und da bin ich erschrocken.«
»Ah«, sagte Bröckchen und biß wieder in den Fisch. Kim staunte nicht schlecht. Der Fisch war ungefähr dreimal so lang wie das kleine Stachelmonstrum, aber Bröckchen hatte schon ein gutes Stück davon vertilgt.
»Ich verstehe. Du erschlägst häßliche Tiere.«
»Nein«, antwortete Kim. »So ... so meinte ich das nicht. Es ... es war, bevor ich wußte, daß du sprechen kannst.«
»Du meinst - wenn ich nichts gesagt hätte, dann hättest du mich erschlagen?«
Kim seufzte. Er begann sich immer unwohler zu fühlen. »Nicht doch«, murmelte er. »Ich meine ... ich ... also ...« Mit einem Male kam er sich ganz klein und schäbig vor. Dieses winzige Etwas hatte ihn tatsächlich aus der Fassung gebracht.
Nicht nur, um das Thema zu wechseln, fragte er: »Gibst du mir ein Stück von deinem Fisch?« Ihm fiel ein, wie hungrig er war.
Bröckchen stellte alle Stacheln auf, duckte sich wie eine angreifende Katze und funkelte Kim an. »Du hast gesagt, ich kann ihn ganz allein für mich haben!« keifte es.
Kim seufzte. »Nun, ich hab ja nur gefragt. Der Fisch ist doch so groß!«
»Und?« entgegnete Bröckchen. »Gesagt ist gesagt!«
»Ist ja gut«, winkte Kim ab. »Ich mache dir einen Vorschlag - iß dich satt, und ich nehme mir, war übrig bleibt - einverstanden?«
Bröckchen grunzte eine Antwort, die Kim nicht verstand, und grub sich schmatzend und schlingend tiefer in den Fisch hinein. Kim stand eine Weile kopfschüttelnd und leicht angewidert dabei, dann drehte er sich um und entfernte sich ein paar Schritte, um das nicht mehr ansehen zu müssen. Die Ohren konnte er leider nicht verschließen - Bröckchen schmatzte wie eine ganze Schweinefamilie. Langsam ging Kim um den kleinen See und sah sich dabei um. Es wurde jetzt zunehmend lichter - in das Grau der Dämmerung mischte sich die erste Helligkeit, und der Sumpf sah schon nicht mehr ganz so bedrohlich aus wie in der Nacht. Hier und da entdeckte Kim sogar einige wilde Blumen zwischen den farblosen Moorgewächsen, und weit entfernt glaubte er einen Strich aus richtigem Grün auf dem Horizont zu erkennen. Offensichtlich hatte Bröckchen wirklich Wort gehalten und ihn zu den Grenzen des unheimlichen Moorlandes geführt.
Er fragte sich, in welchem Teil von Märchenmond er wohl war. Das Land war groß - sehr, sehr groß. Wenn er Pech hatte, konnte er wochenlang wandern, bis er die gläserne Burg Gorywynn endlich erreichte - falls sie überhaupt sein Ziel war.
Kim wurde schmerzhaft bewußt, wie wenig er im Grunde eigentlich wußte - er hatte Themistokles' Gesicht im Spiegel gesehen, und einen Jungen gefunden, der die Kleidung und das Wappen der Steppenreiter trug. Und das war auch schon alles. Er wußte nicht, was in Märchenmond geschehen war, und warum er hier war.