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Kim verscheuchte die Gedanken.

Es war vorbei, lange her. Nicht vergessen, aber vorüber. Seine Schwester Rebekka und er hatten einen Blick (eigentlich war es ein bißchen mehr als ein Blick gewesen) in eine fremde Welt geworfen, jene Welt auf der anderen Seite des Schlafs, in der die Wirklichkeit zum Traum und Träume zur Wirklichkeit wurden. Beide waren sie dort gewesen, und sie hatten das seltsamste und größte Abenteuer ihres jungen Lebens erlebt. Aber es war vorbei.

Für Kim war dieser Gedanke ohne Bitterkeit. Manchmal, wenn er an Märchenmond und seine Bewohner zurückdachte - an Themistokles, den gütigen, alten Zauberer mit dem weißen Bart und den sanften Augen, an Gorg, den gutmütigen Riesen, und an seinen Freund, den Bären Kelhim, an den goldenen Drachen Rangarig, an Prinz Priwinn, an Ado und all die anderen, denen er auf seiner phantastischen Reise begegnet war und mit denen er Freundschaft geschlossen hatte -, dann überkam ihn ein leises Bedauern, daß er sie niemals wiedersehen sollte. Aber Verbitterung oder gar Zorn spürte er nicht. Kim wußte, daß er Märchenmond nicht wirklich verloren hatte. Ein Teil dieser wunderbaren Welt würde immer in ihm sein, und manchmal spürte er ihn wie ein mildes, warmes Licht, das ihn erfüllte, und das um so heller zu leuchten schien, desto düsterer und trostloser die Welt ringsum war.

Es war mehr als ein phantastisches Abenteuer gewesen, das die beiden erlebt hatten. Kim und seine Schwester Rebekka hatten etwas geschenkt bekommen, was zwar die meisten Kinder besaßen, nur war es den wenigsten so bewußt wie ihnen: den Glauben an die Macht der Phantasie und das sichere Wissen, daß es jenseits der Realität des Sichtbaren und Greifbaren noch mehr gab, ja, daß diese Welt sogar nur ein winzig kleiner Teil dessen war, was die meisten Menschen als Wirklichkeit bezeichneten.

Manchmal fragte sich Kim, was sie wohl sagen würden, all diese superschlauen Erwachsenen mit ihren allwissenden Computern und Fachbüchern, wenn sie die Wahrheit wüßten. Und manchmal war die Verlockung groß, sie ihnen zu erzählen.

Aber er tat es nicht. Was sie erlebt hatten, würde ein Geheimnis bleiben zwischen ihm und Rebekka. Und natürlich Themistokles.

Nachdenklich betrachtete Kim die blinkenden Münzen auf seiner Handfläche und ließ sie dann mit einem enttäuschten Seufzer wieder in der Hosentasche verschwinden. Das Cafe war für sein schmales Taschengeld entschieden zu teuer. Vielleicht konnte er Tante Birgit dazu überreden, ihm eine Cola zu spendieren. Sie war nicht nur nett, sondern auch äußerst großzügig, meistens jedenfalls.

Kim wollte sich eben umdrehen, um seiner Tante über die Köpfe der Menschenmenge hinweg einen Noch-eine-Minute-und-ich-sterbe-vor-Durst-Blick zuzuwerfen, als er eine verzerrte Spiegelung in der großen Scheibe des Cafes sah. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Ein flüchtiges Aufflackern wie das blaue Blitzen des Krankenwagenlichtes, aber sehr deutlich. Und es war kein formloser Lichtfleck, sondern der Umriß einer menschlichen Gestalt.

Einer Gestalt, die er kannte!

Ein weißhaariger, bärtiger, alter Mann, der langsam seine Linke hob und Kim verzweifelt zuwinkte. Der Junge starrte ihn fassungslos an, dann fuhr er mit einem nur noch halb unterdrückten Aufschrei herum - und riß ungläubig die Augen auf.

Hinter ihm war niemand. Es stand keiner da, der sich in der Scheibe hätte spiegeln können. Das heißt, natürlich war hinter ihm jemand. Jede Menge Jemands sogar, die herumstanden und neugierig zu dem verunglückten Krankenwagen hinübergafften. Nicht wenige drehten sich jetzt sogar zu Kim herum und warfen ihm sonderbare Blicke zu. Denn Kim hatte vorhin tatsächlich aufgeschrien, und jetzt stand er da, mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund. Leichenblaß. Eine Frau drehte sich zu ihm herum und machte eine Bewegung, als wollte sie ihn an der Schulter angreifen, führte sie aber nicht zu Ende.

»Ist alles in Ordnung mit dir, mein Junge?« fragte sie. Und als Kim nicht reagierte, stellte sie die Frage zum zweitenmal. Kim nickte nur stumm und zwang sich zu etwas, das er für ein Lächeln hielt. Immer noch blickte er fassungslos zu der großen Glasscheibe und zu der leeren Stelle direkt hinter sich, jener Stelle, wo ein alter Mann mit einem weißen Bart gestanden haben mußte, als er sich in der Scheibe spiegelte. Ein Alter, der keinen Anzug oder Mantel trug wie all die anderen Männer hier, sondern eine weite, schwarze Robe, auf die vorne der lange Bart fiel, und der einen mannshohen Stab in der Rechten hielt, um den sich eine geschnitzte Schlange mit weit aufgerissenem Maul wand. Er war nicht da.

Der Alte war ganz eindeutig nicht da, und er konnte auch nicht dagewesen sein. Denn Kim hatte sich so rasch herumgedreht, daß keiner in dieser kurzen Zeit in der Menschenmenge unterzutauchen vermocht hätte.

Und trotzdem hatte Kim den Mann ganz deutlich in der Scheibe gesehen.

»Geht es dir auch wirklich gut, Junge?« vergewisserte sich die Frau. »Du bist ja kreidebleich!« Sie trat einen Schritt näher und legte Kim nun doch die Hand auf die Schulter. Ihre Berührung war leicht und warm, und sie lächelte freundlich. Sie schien sich tatsächlich zu sorgen.

Trotzdem schob Kim ihre Hand nach kurzem Zögern beiseite und zwang sich abermals zu einem Lächeln. »Mir fehlt nichts«, brachte er jetzt heraus. »Ich habe mich nur ... erschrocken.« Er deutete mit einer Kopibewegung auf die Fensterscheibe hinter sich. »Eine Spiegelung, verstehen Sie?«

Der Ausdruck in den Augen der Frau machte deutlich, daß sie ganz und gar nicht verstand - oder ihm nicht glaubte. »Eine Spiegelung?«

»Nur eine Sinnestäuschung«, versicherte Kim hastig. »Es ist alles in Ordnung. Wirklich.«

Einen kurzen Moment lang blickte ihm die Frau mißtrauisch ins Gesicht, aber dann zuckte sie mit den Schultern, drehte sich wieder um und verschwand in der Menge. Kim blieb reglos stehen, mit unbewegtem Gesicht und wie zur Salzsäule erstarrt.

Aber diese Ruhe war nur äußerlich. Hinter seiner Stirn schlugen die Gedanken Purzelbäume. Die wenigen Worte vorhin auszusprechen, hatten ihn fast all seine Kraft gekostet.

Alles in Ordnung?

Plötzlich hatte Kim alle Mühe, sich selbst davon abzuhalten, schrill über seine Behauptung zu lachen.

Nichts war in Ordnung!

Obwohl ihm die Vernunft sagte, daß es völlig unmöglich war, drang da plötzlich eine andere, viel stärkere Stimme in seine Gedanken, die ihm erklärte, daß er die Gestalt sehr wohl gesehen hatte. Weder ihre Gestalt noch die Geste, mit der sie die linke Hand gehoben und Kim zugewunken hatte, waren Einbildung gewesen, so wenig, wie der verzweifelte, fast entsetzte Ausdruck auf dem Gesicht des alten Mannes. Wenn aber all dies keine Einbildung war, dann hatte Kim allen Grund zu behaupten, daß gar nichts mehr in Ordnung war.

Denn die Gestalt im Spiegel war niemand anderes gewesen als Themistokles, der Zauberer aus Märchenmond. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Es war das drittemal, daß Kim diese Frage hörte. Und das angedeutete Nicken, mit dem er darauf antwortete, schien Tante Birgit ebensowenig zu überzeugen wie die Frau vorhin. Kim hatte sich - nachdem seine Hände und Knie zu zittern und sein Herz zu jagen aufgehört hatten - einen Weg über die verstopfte Straße zu dem querstehenden Krankenwagen und damit zu seiner Tante gebahnt. Und nach dem ersten unmutigen Stirnrunzeln, das bei seinem Anblick über ihre Züge gehuscht war, war Tante Birgit deutlich erschrocken und hastig auf ihn zugetreten.