Aber das würde er auch nicht herausfinden, indem er hier herumstand und sich den Kopf zerbrach. Er hatte gar keine andere Wahl, als weiterzugehen und den Weg nach Gorywynn zu suchen. Vielleicht würde er auch später auf einen zuverlässigeren Führer treffen.
Er wartete, bis er sicher war, daß Bröckchen sich satt gegessen hatte, dann ging er wieder zurück - und riß ungläubig die Augen auf.
Das kleine Scheusal hockte da, wo er es zurückgelassen hatte - aber der Fisch war verschwunden! An seiner Stelle lag nur noch ein unterarmlanges, säuberlich bis auf das Mark abgenagtes Rückgrat, aus dem Hunderte von nadeldünnen, gebogenen Gräten wuchsen!
»Das darf doch nicht wahr sein!« entfuhr es Kim.
Bröckchen grinste ihn an, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und rülpste lautstark.
Kim starrte fassungslos abwechselnd das Tier und den abgenagten Fisch an. »Du ... du willst mir doch nicht erzählen, daß du ... daß du den ganz allein aufgegessen hast!« keuchte er ungläubig.
»Doch«, antwortete Bröckchen. »Er hat gut geschmeckt ...« Es sah Kim mit schräggehaltenem Kopf an. »Tut mir leid, daß nichts für dich übriggeblieben ist. Aber ich dachte mir, wenn er schon tot ist, kann ich ihn auch ganz auffressen. Wenn du willst, können wir jetzt weitergehen.«
»Sicher«, murmelte Kim, während er immer noch wie betäubt dastand. »Ganz ... wie du meinst.«
»Na, dann komm.« Bröckchen machte einen Schritt, blieb plötzlich wieder stehen und musterte das Fischskelett nachdenklich. »Eigentlich zu schade zum Liegenlassen«, sagte es - und verschlang mit einem einzigen Biß auch noch das, was von dem Fisch übriggeblieben war.
Sie wanderten eine weitere halbe Stunde auf den Streifen von Grün am Horizont zu. Über dem Sumpf ging die Sonne auf, aber hier unten wurde es nicht richtig hell. Die niedrigen, aber dichtstehenden Bäume schluckten den größten Teil des Sonnenlichtes, und was ihnen entging, das verschlang der Nebel, der mit dem ersten Licht des neuen Tages aus dem Boden zu steigen begann. Der Nebel war feucht und legte sich wie ein klebriger Film auf die Haut, aber er vermochte Kims Zuversicht nicht mehr zu brechen - sie näherten sich eindeutig der Grenze des Sumpflandes. Bröckchen ging die meiste Zeit voraus, lief aber auch manchmal neben Kim her oder fiel ein paar Schritte zurück, und je länger Kim das kleine Tier betrachtete, desto weniger abstoßend fand er es. Natürlich, es war und blieb häßlich - aber Kim begann sich zu fragen, wieso er anfangs solchen Ekel bei seinem Anblick verspürt hatte.
Jetzt erreichten sie den Rand des Sumpfes, und Bröckchen blieb stehen. Der Blick seiner hervorquellenden Augen richtete sich auf die sonnenbeschienene, sanft gewellte Wiese, die sich vor ihnen erstreckte, nur hier und da von ein paar Bäumen oder Büschen unterbrochen. In einer Entfernung von drei oder vier Kilometern erblickte Kim den Rand eines weiteren Waldes - aber eines ganz anderen Waldes, als jener des Sumpfgebietes war.
»Da wären wir«, sagte Bröckchen. Es blickte unsicher in den Himmel, ehe es sich wieder Kim zuwandte. »Wenn du deinesgleichen suchst, geh einfach geradeaus.« Der Kleine zögerte einen Moment. »Das mit dem Fisch war gut«, sagte es schließlich. »Glaubst du, daß du das noch mal kannst?«
»Warum nicht?«
»Ich könnte dich noch ein Stück führen«, fuhr Bröckchen fort. »Dein Weg ist ziemlich weit. Du könntest dich verirren. Oder kennst du dich zufällig hier aus?«
Kim unterdrückte ein Grinsen.
»Nein«, gestand er. »Ich könnte schon einen Führer gebrauchen - falls dieser Führer mit meiner Bezahlung einverstanden ist.«
»Ein Fisch pro Tag?«
»Abzüglich dem, was ich davon esse.«
Bröckchen schien enttäuscht, und Kim beeilte sich, hinzuzufügen: »Ich bin ein schwacher Esser, mein Ehrenwort. Ich esse kaum so viel, wie ich selbst wiege.«
»Bestimmt?« vergewisserte sich Bröckchen.
»Bestimmt«, antwortete Kim. »Meistens sogar sehr viel weniger.« Er wußte selbst nicht genau warum - aber plötzlich wünschte er sich, daß das kleine Tierchen ihn weiter begleitete; es spielte keine Rolle mehr für ihn, ob es häßlich war. »Na gut«, meinte Bröckchen, nachdem es eine Welle nachgedacht hatte. »Warte hier einen Moment.« Und damit wandte es sich herum und verschwand mit wieselflinken Schritten hinter einem Busch.
Es blieb ziemlich lange fort, so lange, daß Kim sich all-, mählich fragte, ob es sich vielleicht einen bösen Scherz zum Abschied erlaubt hatte und ihn einfach hier zurückließ. Er wartete noch eine ganze Weile, dann ging er mit entschlossenen Schritten auf den Busch zu.
Aber kaum hatte er die halbe Entfernung überwunden, teilten sich die dürren Zweige, und ein rot- und orange- und gelbgestreiftes wunderhübsches Wesen trat hervor.
Kim riß verblüfft Mund und Augen auf. Was da vor ihm stand, das war das schönste Tier, das er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Es war nicht größer als Bröckchen, aber wo das Stacheltier aus nadelspitzen Stacheln und schleimigen Schuppen bestanden hatte, da trug dieses Wesen ein prächtiges Federkleid. Samtweiche Pfoten und ein langer, buschiger Schweif wie der einer Perserkatze waren unter den rauschenden Federn verborgen, die seinen Körper wie ein flaumiger Mantel umgaben, und ein Paar großer, weicher Rehaugen blickte aus dem hübschen Gesichtchen zu Kim empor, das ihn sofort in seinen Bann schlug. In seiner wogenden Federstola sah es aus wie einer jener prachtvollen Rotfeuerfische, wie sie Kim einmal in einem Film gesehen hatte.
»Wer ... wer bist du denn?« murmelte Kim, während er sich mit einem Lächeln in die Hocke sinken ließ und dem prachtvollen Geschöpf die Hand entgegenstreckte.
Das Tierchen blickte ihn eine Sekunde lang fast spöttisch an - und biß ihm herzhaft in den Finger. »Eigentlich habe ich ja keinen Hunger mehr«, sagte es, »aber ein kleiner Nachschlag paßt immer.«
Kim sprang mit einem verblüfften Ausruf auf die Füße, steckte den blutenden Finger in den Mund und starrte das Geschöpf mit großen Augen an. »Br... öckchen?« stammelte er.
»Es ist ein dämlicher Name - aber meinetwegen können wir dabeibleiben. Irgendwie paßt er zu dir.«
»Aber das ... wie kann das sein ... ich ... ich meine ...«
»Daß ich häßlich wie die Nacht bin, ich weiß«, sagte Bröckchen. »Stimmt. Aber die Nacht ist vorbei, oder?«
»Umpf«, machte Kim - was angesichts dessen, was da hinter seiner Stirn vorging, sogar noch verhältnismäßig intelligent war.
»Genau«, sagte Bröckchen. »Und jetzt komm. Der Weg ist weit, und ich glaube, ein gewisser Fisch wartet auf uns.« Es dauerte lange, sehr lange, bis Kim sich beruhigt und an die erstaunliche Verwandlung des Stacheltieres gewöhnt hatte - und er versuchte erst gar nicht, sie etwa zu verstehen. Er hatte einst in diesem Land schon phantastischere Dinge erlebt - aber wenige, die überraschender gekommen waren. Sie brachen auf und machten sich an die Überquerung des Graslandes. Der Wald, den Kim gesehen hatte, war weiter entfernt als vermutet, denn sie marschierten gute zwei Stunden, ehe sie seinen Rand endlich erreichten. Bröckchen wuselte die ganze Zeit vor ihm her, wobei seine samtweichen Katzenpfoten nicht den mindesten Laut verursachten. Mehr als einmal verschwand es im hohen Gras, um wie ein hüpfender kunterbunter Federball plötzlich wieder aufzutauchen. Dazwischen redeten sie über dies und das - Bröckchen erkundigte sich neugierig, wer Kim war, und woher er kam, und Kim antwortete geduldig. Er stellte selbst die eine oder andere Frage, bekam aber nur wenige Antworten. Wie es schien, war der Federball bisher nie aus seiner Heimat, dem Sumpfland, herausgekommen. Trotzdem wußte er, daß Kims Ziel im Süden lag - also in der Richtung, in die sie sich bewegten.
Als sie den Waldrand erreichten, legten sie eine Rast ein. Kim war rechtschaffen müde, und nachdem Bröckchen (angesichts seiner wundersamen Verwandlung wirklich ein blöder Name, aber Kim war zu müde, um sich einen neuen auszudenken) hoch und heilig versprochen hatte, erstens Wache zu halten und zweitens darauf zu verzichten, sich ein verspätetes Frühstück aus Kim herauszubeißen, streckte sich der Junge im Schatten eines Baumes aus und schlief fast auf der Stelle ein.