Als Kim erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Er hatte fast den halben Tag verschlafen, fühlte sich aber so frisch und ausgeruht, daß sein Ärger darüber im Nu verflog. Nachdem er seinen Durst an einem klaren Bach gestillt hatte, den sie in der Nähe fanden (man fand in Märchenmond immer eine Quelle, wenn man durstig war), marschierten sie weiter.
Der Wald erwies sich als nicht sehr tief. Schon bald lichtete sich das Unterholz, und die Stämme der uralten Bäume standen nicht mehr so dicht, so daß sie besser vorankamen. Der Boden jedoch begann unebener zu werden - zwischen dem saftigen Moos erschienen immer öfter harte graue Felsen, und ein paarmal mußte Kim klettern oder große Umwege nehmen, meistens dann, wenn er nicht auf Bröckchens Warnung hörte, sondern meinte, mit seiner Körpergröße die Hindernisse überwinden zu können, die für den Winzling unübersteigbar waren.
Endlich erreichten sie den Waldrand, und jetzt sah Kim auch, warum das Gehen immer schwieriger geworden war: der Wald säumte wie ein natürlich gewachsener Schutzwall die Krone einer felsigen Steilwand, die weit unter ihnen in die Tiefe stürzte. An ihrem Fußende begann ein sanft gewelltes Hügelland mit Feldern und Wiesen, kleinen Waldstücken - aber auch den hellen Flecken von Dörfern und vereinzelter Häuser und Gehöfte.
Nun, das Herabklettern würde mühsam genug werden - und doch jubelte Kim innerlich. Dörfer und Höfe - das bedeutete, er würde endlich jemanden fragen können, was in Märchenmond vorgefallen war! Und warum Themistokles ihn um Hilfe gerufen hatte!
»Und jetzt?« fragte Bröckchen.
Kim seufzte tief und deutete ergeben auf die Steilwand zu ihren Füßen. »Wir müssen klettern«, sagte er. »Aber keine Angst - wir werden es schon irgendwie schaffen. Wenn du willst, trage ich dich.«
»Prima«, sagte Bröckchen und hüpfte gleich mit einem Satz auf Kims Schultern. Die Berührung war so sanft, daß Kim sie kaum spürte, nur das Federkleid kitzelte seine Wange.
»Wir könnten auch die Brücke nehmen«, schlug Bröckchen vor.
»Welche Brücke?«
Eine schmale Samtpfote deutete an Kims Nase vorbei nach links. »Die da, du Blindfisch.«
Kim lachte leise. Bröckchens Charakter schien sich nicht so grundlegend geändert zu haben wie sein Aussehen. Kim blickte gehorsam in die angegebene Richtung. Und tatsächlich - weit entfernt sah er etwas wie ein filigranes Gespinst, das sich an der Wand emporrankte, dünn wie Spinnweben, aber entschieden zu eckig, um natürlichen Ursprungs zu sein. Anscheinend war er nicht der erste, der hier heraufgekommen war. Jemand hatte etwas wie eine riesige Feuerleiter an der Wand errichtet. Der Weg dorthin schien ziemlich weit, aber Kim zog es vor, ein paar Kilometer zu laufen, statt dieselbe Strecke an einer fast senkrechten Wand herabzuklettern. Den bunten Federwuschel auf der Schulter, machte er sich auf den Weg.
Die Sonne hatte ihren Höhepunkt längst überschritten, als sie die Leiter erreichten, und Kim begann einzusehen, daß er wohl eine weitere Nacht unter freiem Himmel verbringen mußte. Seine Kräfte ließen bereits nach. Und er konnte von Glück sagen, wenn er noch vor Einbruch der Dunkelheit den Fuß der Steilwand erreichte. Selbst das Federgewicht Bröckchens begann sich allmählich unangenehm auf seiner Schulter bemerkbar zu machen; aber der Knirps dachte natürlich nicht daran, freiwillig abzusteigen. Kim kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als er sich der sonderbaren Konstruktion näherte, die tatsächlich wie eine Feuerleiter an der Felswand hing. Allein ihre Größe verblüffte, ja erschreckte ihn sogar. Sie war wahrlich gigantisch. Die einzelnen Stufen waren zwar von üblicher Höhe, aber so breit, daß mindestens zwanzig Männer nebeneinander darauf gehen konnten. Sie bestand ganz aus uraltem, verrostetem Eisen, das an manchen Stellen schon Löcher aufwies; hier und da schien eine Stufe ganz zu fehlen, und der Wind, der beständig an der Felswand blies, trug rote Staubfahnen aus Rost mit sich. Kim fragte sich vergeblich, welchem Zweck diese absonderliche Konstruktion dienen mochte. Und warum man sich die Mühe gemacht hatte, sie zu erbauen, wenn man sie dann verfallen ließ.
Kim zögerte eine ganze Weile, ehe er den Fuß auf die oberste Stufe setzte; dann trat er vorsichtig auf die erste Sprosse, jeden Moment darauf gefaßt, daß das Ganze unter seinem Körpergewicht zusammenbrach, um sich dann blitzschnell zurückzuwerfen. Aber nichts dergleichen geschah. Die Treppe wankte nicht einmal. Der einzige, der wankte, war Kim, als er vollends hinaustrat und ihn der Wind nunmehr mit ungeminderter Wucht traf. Er streckte den Arm aus und hielt sich am Geländer fest. Ein Teil des rostigen Eisens zerbröckelte unter seinen Fingern, aber er fand trotzdem Halt. Bröckchen kreischte, als der Wind sein Federkleid traf und es aufplusterte. Fast wurde es von Kims Schulter heruntergeweht. Verzweifelt klammerte es sich an Kims Haar fest, aber seine weichen Pfötchen hatten ja keine Krallen mehr. Wie eine zu groß geratene Flaumfeder nahm es der Wind auf, und es wäre unweigerlich in die Tiefe gestürzt, hätte Kim nicht blitzschnell mit der freien Hand zugegriffen und es festgehalten. »Puh«, sagte Kim. »Das war knapp.«
»Allerdings«, keuchte Bröckchen. Seine Stimme war plötzlich piepsig und schrill geworden, und Kim konnte fühlen, wie sein kleiner Körper unter dem Flaumkleid wie Espenlaub zitterte.
Ganz vorsichtig, die linke Hand stets am rostigen Eisen des Geländers und immer erst einen Fuß ganz aufsetzend und nach festem Stand suchend, ehe er den anderen hob, bewegte sich Kim die Treppe hinunter.
Es war eine lebensgefährliche Kletterpartie. Die Leiter befand sich tatsächlich in einem sehr schlechten Zustand. Nur zuoft mußte Kim einen großen Schritt über Stufen hinwegmachen, die so durchgerostet waren, daß sie nur noch aus papierdünnen, rostroten Gittern zu bestehen schienen; oder gar ganz verschwunden waren. Einmal kamen sie an eine Stelle, an der sich ein ganzer Teil der Treppe in roten Staub aufgelöst hatte, so daß unter ihnen nichts mehr war als ein gewaltiger, gähnender Abgrund. Kim überwand ihn, indem er sich am Rand mit zusammengebissenen Zähnen und angstvoll geschlossenen Augen auf dem rostigen Geländer entlanghangelte. Er schaffte es. Aber hinterher fühlte er sich so erschöpft, daß er sich erst einmal niederlassen und nach Atem ringen mußte, als er endlich wieder eine Sprosse erreicht hatte. Als sie sich schließlich dem Fuß der Treppe näherten, hatte die Sonne bereits den letzten Abschnitt ihrer Tageswanderung begonnen. Die Schatten wurden länger, und von Süden her wehte ein kühler Wind, der Kim sehr willkommen war, denn er war am ganzen Körper in Schweiß gebadet. Bröckchen hatte sein Teil dazu beigetragen, denn nachdem der kleine Federbusch zum zweitenmal fast von Kims Schulter heruntergeblasen worden wäre, hatte er es kurzerhand unter sein Hemd gestopft. Zwar spürte Kim sein Gewicht kaum, aber die flauschigen Federn hatten ihn schwitzen gemacht.
Plötzlich blieb Kim stehen, richtete sich auf und blickte scharf aus zusammengepreßten Augen nach unten.
»Was ist los?« piepste Bröckchen und steckte neugierig die Schnauze aus Kims Hemd, so daß die roten Federn hinter seinem Köpfchen Kim unter dem Kinn kitzelten.
»Ich... weiß nicht genau«, sagte Kim zögernd. »Ich glaube, da unten steht jemand.«
Auch sein flauschiger Begleiter sah jetzt nach unten, und Kim spürte am neuerlichen Kitzeln der Flaumfedern, daß Bröckchen nickte.
»Tatsächlich«, piepste es. »Aber irgendwie ... ist er komisch.«
»Wieso?« Kim hatte längst begriffen, daß Bröckchens Augen viel schärfer als die seinen waren.
»Weiß nicht«, antwortete das Federwesen. »Komisch eben. Sei lieber vorsichtig.«