Verblüfft drehte sich Kim vollends herum und sah genauer hin. Da, im gleichen Augenblick, in dem der zottige Riese sich endlich mit einem zornigen Schütteln des kleinen Quälgeistes auf seiner Schulter entledigt hatte, sah Kim, daß der Bär tatsächlich nur ein Auge hatte. Und ein Ohr fehlte auch. Bröckchen war in hohem Bogen ins Gebüsch geflogen, fuhr aber sofort wieder herum und raste mit gebleckten Zähnen auf seinen ungleichen Gegner zu. Dieser knurrte, beugte sich leicht vor und hob die rechte Tatze, um dem Winzling endgültig den Garaus zu machen. Kim schrie aus Leibeskräften: »Bröckchen! Hör auf!«
Das Tierchen verhielt tatsächlich mitten in der Bewegung und blickte verblüfft zu Kim hinüber, auch der Bär wandte den mächtigen Schädel und sah Kim aus seinem einzigen Auge an.
»Hör auf«, rief Kim noch einmal. »Er wird mir nichts tun. Und du, Kelhim«, fügte er lächelnd hinzu, »solltest dich schämen, uns so zu erschrecken. Hast du denn immer noch nicht gelernt, daß deine Art von Humor manchmal etwas derb ist?«
Lächelnd ging er auf den riesigen Bären zu, blieb vor ihm stehen und breitete die Hände aus, wie um ihn zu umarmen. Kelhim legte den Kopf auf die Seite und maß den Jungen mit einem langen, fast nachdenklichen Blick. Er rührte sich nicht, und für den Bruchteil einer Sekunde überkamen Kim nun doch Zweifel. Was, wenn er sich getäuscht hatte und wirklich einer wilden Bestie gegenüberstand, statt seines alten Freundes? Aber dann sah er noch einmal genau hin und erkannte, daß es tatsächlich Kelhim war. Kelhim, der sprechende Zauberbär, einst sein Gefährte im Kampf gegen Boraas' schwarze Horden und einer der besten Freunde, die er jemals gehabt hatte. Es gab gar keinen Zweifel.
»Du wirst wohl allmählich alt, wie?« fragte Kim spöttisch. »Vielleicht solltest du dir einmal etwas Neues einfallen lassen. Schon als wir uns das erste Mal gesehen haben, hast du so getan, als wolltest du mich auffressen.«
Bröckchen räusperte sich umständlich. »Entschuldige«, sagte es unsicher zu Kim. »Aber bist du sicher, daß du weißt, was du tust?«
»Ganz sicher«, antwortete Kim fest und trat noch näher an den riesigen Bären heran. Kelhim knurrte, hob die Tatze und senkte gleichzeitig den Kopf. Seine vernarbte Nase bewegte sich wie die eines schnüffelnden Hundes.
»Komm schon, alter Junge«, sagte Kim. »Sag was.«
Kelhim knurrte erneut, hob die Tatze noch ein wenig höher - und schlug zu.
Diesmal traf er.
Kim hatte plötzlich das Gefühl, von einem dahinrasenden Lastwagen gerammt zu werden. Der Hieb riß ihn von den Füßen und schleuderte ihn weit über die Lichtung, wobei er sich immer und immer wieder in der Luft überschlug. Daß er sich beim Aufprall nicht den Hals oder wenigstens einige Knochen brach, verdankte er einzig der Tatsache, daß er in einem Busch landete, der dem Sturz die ärgste Wucht nahm. Trotzdem blieb er benommen liegen und kämpfte sekundenlang gegen schwarze Bewußtlosigkeit, die seine Gedanken vernebeln wollte. Stöhnend wälzte er sich herum, wollte sich in die Höhe stemmen und sank mit einem Schmerzensschrei wieder zurück, als seine geprellte Schulter unter der Belastung einknickte. Schwarze und rote Schlieren tanzten vor seinen Augen. Wie ein verzerrtes Gespenst aus einem Alptraum sah Kim den Umriß des Bären auf sich zuwanken, noch immer auf die Hinterläufe erhoben und die Tatzen ausgestreckt. Ein tiefes, durch und durch böses Knurren drang an Kims Ohr.
»Kelhim«, stöhnte er. »Was ... was tust du da? Ich bin es -Kim!«
Da blieb der Bär für einen winzigen Moment stehen. Ein fast nachdenklicher Ausdruck erschien in seinem Auge, und für einen Augenblick glaubte Kim, so etwas wie Erkennen darin aufleuchten zu sehen. Aber dann erlosch es, und er blickte wieder in das Auge eines gierigen Raubtieres. »Kelhim!« keuchte Kim. »Nein!«
Der Bär brüllte, packte ihn mit einer Kralle, wobei er Kims Hemd und einen guten Teil der Haut darunter in Fetzen riß, und zerrte ihn in die Höhe. Das Maul klaffte auf, und stinkender, heißer Raubtieratem schlug Kim ins Gesicht. Ergeben schloß er die Augen und wartete auf den letzten, alles beendenden Schmerz.
Plötzlich ging ein heftiger Schlag durch den Leib des Bären, und Kim stürzte von hoch oben zum zweitenmal sehr unsanft auf den Boden herab.
Kelhim brüllte auf und wandte sich um. Dahinter konnte Kim nicht mehr als einen gewaltigen Schatten erkennen. Die gewaltigen Tatzen des Bären fuhren durch die Luft und trafen auf einen Widerstand, der unter den Hieben zu dröhnen begann wie eine Glocke.
Kim kroch hastig davon, richtete sich stöhnend auf und preßte die Arme gegen den Leib. Er bekam kaum noch Luft. Aus tränenerfüllten Augen sah er Kelhim an.
Der Bär rang verbissen mit jener schattenhaften Gestalt, die kaum weniger groß und massiv war als er. Immer wieder fuhren die gewaltigen Bärentatzen durch die Luft und trafen krachend den Körper des Gegners, aber der schien unverwundbar zu sein, denn er wankte nicht einmal unter den fürchterlichen Hieben. Dafür wurde Kelhim immer wieder getroffen - und er schien die Schläge sehr wohl zu spüren, denn sein Knurren klang jetzt immer schmerzerfüllter.
Schließlich geschah das Unfaßbare: Kim hätte niemals im Leben geglaubt, daß es jemanden gab, der dem gewaltigen Untier gewachsen war - aber am Ende war es Kelhim, der den Kampf verlor und sich Schritt für Schritt vor dem unbekannten Angreifer zurückzog!
Kim schwindelte. In seiner Schulter erwachte ein pochender Schmerz, und gleichzeitig machte sich ein Gefühl betäubender Lähmung in seiner ganzen linken Körperhälfte breit. Mit spitzen Fingern tastete er nach seiner Schulter, dort, wo ihn die Bärenpranke getroffen hatte. Er wimmerte vor Schmerz. Die Wunde selbst war nicht sehr tief und blutete noch nicht einmal heftig, aber Kim fürchtete, daß der Arm gebrochen war.
»Laß das, du Dummkopf!« sagte da eine Stimme hinter ihm. »Leg dich hin. Ich kümmere mich um deinen Arm.« Kim gehorchte - schon weil er sich einfach zu schwach fühlte, um noch einen weiteren Schrecken zu empfinden. Stöhnend ließ er sich zurücksinken, schloß die Augen und keuchte erneut vor Schmerz, als sich geschickte, aber nicht sehr sanfte Finger an seinem Arm zu schaffen machten.
»Das sieht nicht gut aus«, fuhr die Stimme fort. Sie kam Kim irgendwie bekannt vor, aber er wußte beim besten Willen nicht, woher. »Der Arm scheint nicht gebrochen zu sein, aber du wirst den größten blauen Fleck deines Lebens davontragen. Du mußt völlig verrückt sein, nachts und allein in dieser Gegend herumzulaufen, Junge.«
Kim öffnete endlich die Augen und blickte in ein bärtiges, sehr gutmütig aussehendes Gesicht. Wieder schien ihm, als sei es ihm irgendwann vertraut gewesen. Auch der Mann blickte Kim aufmerksam an.
»Glaubst du, daß du aufstehen und gehen kannst?« fragte er schließlich. »Mein Haus ist nicht sehr weit. Flier im Wald kannst du nicht bleiben. Brokk hat das Untier verjagt, aber es wird zurückkommen.«