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»Verschwand?« Kim horchte auf. »Was meinst du damit?«

»Er ist fort«, antwortete Brobing traurig. »Wie so viele. Er war fast in Eurem Alter, wißt Ihr. Er sah Euch sogar ein bißchen ähnlich.« Er seufzte tief, gab sich einen sichtbaren Ruck und fuhr sich verstohlen mit dem Handrücken über die Augen, ehe er in verändertem Ton fortfuhr: »Aber gehen wir doch ins Haus. Drinnen redet es sich besser. Und ich kann mir vorstellen, daß Ihr auch hungrig und durstig seid. Ihr seht jedenfalls so aus, als wärt Ihr es.«

Kim widersprach nicht. Sein knurrender Magen war zwar im Moment das, was ihn am wenigsten interessierte, aber er begriff sehr wohl, daß Brobing auf seine Art ebenso litt wie Jara und es ihm schwerfiel, darüber zu sprechen. Brokk trug Kim ins Haus, wobei er sich bücken mußte, um mit seinem gewaltigen eisernen Schädel nicht gegen den Türsturz zu prallen. Die hölzernen Dielen knarrten unter seinem Gewicht, und er war so breitschultrig, daß es Kim nicht weiter verwundert hätte, wäre er einfach wie ein Korken im Flaschenhals im Türrahmen steckengeblieben. Aber der Eisenmann wand sich geschickt durch die Tür hindurch, trug Kirn zu einer hölzernen Bank und setzte ihn behutsam ab.

Kim atmete hörbar auf, als sich die eisernen Klauen zurückzogen. Brokk genoß sichtlich Brobings uneingeschränktes Vertrauen, und er hatte Kim zweifellos das Leben gerettet. Ja, auch wenn Kim es nicht verstand - Kelhim hätte ihn getötet, wären Brobing und sein schauriger Begleiter nicht im letzten Moment aufgetaucht.

Der Bauer schien Kims Unbehagen zu spüren, denn er sah erst Kim und dann den Eisenmann stirnrunzelnd an, ehe er auf die Tür deutete und sagte: »Geh hinaus, Brokk. Halte Wache. Der Bär war ziemlich nahe am Haus. Ich möchte nicht, daß er uns im Schlaf überrascht.«

Wortlos und gehorsam wandte sich der rostrote Riese um und stampfte aus dem Raum. Das ganze Haus schien unter seinen Tritten zu wanken.

»Ich fand ihn auch unheimlich, als ich ihn das erste Mal sah«, meinte Brobing lächelnd, nachdem Brokk draußen war. »Aber Ihr müßt keine Angst vor ihm haben. Er kann niemandem etwas tun; nicht einmal, wenn er es wollte. Und er ist sehr nützlich.« Der Mann sah Kim an, als erwarte er an diesem Punkt, daß Kim eine ganz bestimmte Frage stellte. Aber Kim schwieg. Er war froh, daß Brokk gegangen war, und wollte ganz bestimmt nicht über ihn reden. Es gab Wichtigeres zu besprechen. Kim brannten tausend Fragen auf der Zunge, und er las auf Brobings Gesicht, daß es dem Bauern ebenso erging.

Bevor er jedoch dazu kam, auch nur eine einzige dieser Fragen zu stellen, kamen die Bäuerin Jara und zwei Dienstmägde herein, hoch beladen mit Schüsseln voller dampfendem Wasser und sauberen weißen Tüchern. Und sie gingen zuerst einmal daran, sich gründlich um Kims geprellte Schulter und all die anderen kleinen Kratzer und Schrammen zu kümmern, die er sich während seiner Wanderung durch das Sumpf land zugezogen hatte.

Kim war dieser Aufwand peinlich, und doch genoß er es insgeheim, daß sich jemand um ihn sorgte. Seine Schulter wurde mit einem wohlriechenden Öl eingerieben und dann so fest verbunden, daß die Verbände erst mehr schmerzten als die Prellung. Auch all die anderen kleinen Verletzungen wurden versorgt. Als die Behandlung endlich fertig war, fühlte sich Kim merklich wohler als zuvor. Schließlich brachte Jara noch frische Kleider: ein kurzes, ärmelloses Hemd aus seidenweichem Leder, das lose über dem Gürtel getragen wurde, Hosen aus dem gleichen Material, nur widerstandsfähiger, und wadenhohe, weiche Stiefel, die so perfekt paßten, als wären sie für Kim gemacht. All dies erinnerte ihn an den jungen Steppenreiter - und damit an den eigentlichen Grund, aus dem er überhaupt hier war.

»Gefallen Euch die Kleider nicht?« fragte Jara, die seinen Blick bemerkte, aber offensichtlich falsch gedeutet hatte. »Sie passen doch, oder?«

»Wie angegossen«, versicherte Kim. »Und sie sind wirklich sehr schön.« Wieder sah er diese Trauer in Jaras Gesicht.

»Haben sie Eurem Sohn gehört?« fragte er leise. Jara nickte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber diesmal wandte sie sich nicht ab, sondern sah Kim weiter an und antwortete: »Ja. Ich selbst habe sie ihm genäht, im letzten Winter. Er war ... fast so groß wie Ihr, als er verschwand.«

»Wann war das?« fragte Kim.

»Vor einem halben Jahr, Herr.« Jara begann, die Tücher und Schüsseln und Kims zerfetzte Hose und Pullover wegzuräumen, während eine der Mägde bereits Teller und Besteck für das Essen auftrug. Es war zubereitet worden, während die Bäuerin sich um Kim gekümmert hatte. »Er ging... zur Nordweide, um nach den Tieren zu sehen. Das war seine Aufgabe, und er erfüllte sie gerne.«

»Und was ist geschehen?« erkundigte sich Kim.

»Das weiß ich nicht«, flüsterte Jara. Ihre Tränen versiegten so rasch, wie sie gekommen waren, aber ihr Blick blieb leer, wie auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet. »Er kam eines Abends einfach nicht zurück. Wir haben ihn überall gesucht, wochenlang. Mein Mann und Brokk waren sogar in Kelhims Höhle -«

Kim sah aus den Augenwinkeln, wie Brobing seiner Frau einen erschrockenen Blick zuwarf, aber seine Frau reagierte gar nicht darauf, sondern fuhr mit tonloser Stimme fort: »- weil sie dachten, der Bär hätte unseren Jungen vielleicht geholt.«

»Kelhim?« Kim konnte es immer noch nicht glauben. »Er hat viele von uns getötet, Kim«, meinte Brobing ernst. »Ich sagte Euch schon - er ist ein wildes Tier geworden.« Auch er seufzte, und sein Gesicht verdunkelte sich, als ihn die Erinnerung übermannte. »Wir fanden viele Tote, aber Torum war nicht dabei. Ich glaube nicht, daß Kelhim unseren Sohn geholt hat. Glaubte ich das, dann wäre dieser verdammte Bär schon tot, und wenn es das letzte wäre, was ich in meinem Leben tue.«

Seine Worte - und vor allem der Ton, in dem er sie aussprach - ließen Kim schaudern. Rache? dachte er verwirrt. Das ... das war ein Wort, das nicht hierher in diese Welt paßte. Aber er sagte nichts, sondern wartete geduldig, bis Brobing sich wieder soweit in der Gewalt hatte, daß er weitersprechen konnte.

»Torum ist nicht der erste, der auf diese Weise verschwand, Herr.«

»Ich dachte es mir«, murmelte Kim.

Brobing sah überrascht auf, und auch seine Frau blickte Kim erschrocken an. Kim hätte sich am liebsten selbst auf die Zunge gebissen, aber es war zu spät, die Worte zurückzunehmen.

»Ihr wißt davon?« flüsterte Brobing. Eine wilde Hoffnung flammte in seinen Augen auf.

»Ich glaube, das ist der Grund, aus dem ich hier bin«, sagte Kim vorsichtig.

»Dann habt Ihr vielleicht von Torum gehört?« fragte Jara. »Wißt Ihr, wie es ihm geht? Wo er ist?«

Kim hätte gerne geantwortet und ihr gesagt, daß es ihm gut ginge und sie sich keine Sorgen zu machen brauchten - aber er konnte es nicht. Märchenmond war kein Land, in dem eine Lüge lange Bestand hatte, nicht einmal aus Barmherzigkeit. Und es wäre eine Lüge gewesen. Er wußte nicht, wo Torum war - der Junge im Krankenhaus hat das Wappen Caivallons getragen und war bestimmt nicht Jaras Sohn. Auch hatte Kim die Worte des Professors nicht vergessen: Sie werden vielleicht sterben, wenn wir nicht herausbekommen, was ihnen fehlt, Kim.

»Nein«, antwortete er traurig. »Ich habe Euren Sohn nicht gesehen.«

Jara blickte ihn einen Moment lang traurig an, dann lächelte sie, aber während sie es tat, begannen wieder Tränen über ihr Gesicht zu laufen, und nach einer Welle stand sie auf und verließ das Zimmer.

Kim schwieg bekümmert.

Auch auf Brobings Gesicht hatte sich Schmerz ausgebreitet. »Sie war früher ein so fröhlicher Mensch«, sagte er. »Ihr habt sie gekannt. Aber seit Torum verschwunden ist, lacht Jara nicht mehr. Manchmal habe ich Angst, daß ihr das Herz bricht und ich sie auch noch verliere.«

»Ich glaube, daß Torum noch lebt«, sagte Kim jetzt, um den Mann zu trösten. Er war nahe daran, Brobing zu erzählen, was er wußte, aber er tat es nicht. Es hätte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet.