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»Habt Ihr vergessen, daß wir nicht um unsere Toten trauern?« fragte Brobing. »Denn wir bewahren sie in unseren Herzen auf, und sie leben in uns und unserer Erinnerung weiter. Doch jemand, der einfach verschwindet - das ist etwas anderes. Niemand weiß, was mit Torum und den anderen geschehen ist. Ob sie noch leben, oder wo sie sind. Ob man sie gefangenhält, ob sie Sklaven sind oder freie Menschen...«

Er sprach nicht weiter, aber das war auch nicht nötig, denn Kim hatte sehr wohl begriffen, was er meinte. Es war nicht nur der Schmerz über den Verlust ihres Sohnes, der ihm und seiner Frau das Herz brach - es war die Ungewißheit, was mit ihm geschehen war. Gab es etwas Schlimmeres, als hilflos dazusitzen und sich alle möglichen Schrecknisse vorzustellen, die einem geliebten Menschen widerfahren konnten?

»Wie viele sind es, die verschwunden sind?« fragte er. Brobing blickte ernst. »Sehr viele«, bestätigte er. »Sie gehen einfach weg und kommen nicht wieder. Oder sie legen sich zum Schlaf nieder und sind nicht mehr da, wenn die Sonne aufgeht. Niemand weiß, was mit ihnen geschieht. Und es werden immer mehr. Manche sagen, daß bald alle Kinder verschwunden sein werden.«

»Aber es muß doch eine Erklärung dafür geben«, beharrte Kim.

Brobing sah ihn an und schwieg. Und plötzlich begriff Kim, daß er selbst es war, von dem man hier eine Antwort auf diese Frage erwartet hatte, und nicht umgekehrt.

»Wann hat es angefangen«, fragte er, »und wo?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Brobing. »Wir leben hier weit von den Städten und Burgen entfernt, Herr. Nachrichten dringen nur spärlich zu uns, und langsam. Doch ich habe erfahren, daß überall im Lande Kinder zu verschwinden beginnen.«

»Und niemand tut etwas dagegen?« fragte Kim zweifelnd.

»Aber was sollte man denn tun?« erwiderte Brobing traurig. »Oh, natürlich hat man sie gesucht - lange und überall. Themistokles hat all seine Zauberkraft aufgeboten, sie aufzuspüren, und andere Zauberer haben ihm geholfen. Aber es war zwecklos. Sie haben das ganze Land abgesucht, und ich habe gehört, daß Rangarig, der goldene Drache, über ganz Märchenmond bis hin zu den brennenden Ebenen geflogen ist, um eine Spur von den Kindern zu finden. Sie sind nicht entführt worden, wenn es das ist, was Ihr glaubt. Niemand hätte einen Zauberer wie Themistokles täuschen können. Sie sind einfach ...« Er breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus, »... fort.«

Kim blickte lange und sehr düster an Brobing vorbei ins Leere. Und für einen Moment glaubte er die Antwort auf alle Fragen zu wissen. Aber der Gedanke entglitt ihm so rasch, wie er gekommen war.

»Und das ist nicht alles, was geschehen ist, nicht wahr?« fragte er leise. Er hatte die Worte des Bauern nicht vergessen. Brobing seufzte. »Nein. Aber ich kann Euch nicht sagen, was es ist, Herr. Etwas ... geschieht. Alle merken es, aber niemand weiß, was es ist.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Die Menschen verändern sich, Kim«, erklärte Brobing. »Sie lachen weniger. Viele sind hart und verbittert geworden. Es gibt Streit, und im letzten Jahr berichtete ein Reisender, daß ein Krieg ausgebrochen wäre.«

»Krieg?« entfuhr es Kim ungläubig. »Krieg in Märchenmond?!«

Brobing hob besänftigend die Hand. »Kein großer Krieg, wie damals, gegen den bösen Zauberer Boraas und seine schwarzen Reiter«, sagte er. »Aber es gab Gefechte - ich weiß nicht, warum - zwischen den Steppenreitern von Caivallon und dem Herrn des Sumpflandes im Osten, dem Tümpelkönig. Viele wurden verletzt, einige sogar getötet. Hätte Themistokles nicht schlichtend eingegriffen, wäre es -wohl noch viel schlimmer gekommen.«

Es fiel Kim schwer, das zu glauben. Er kannte den Herrn von Caivallon, und er kannte erst recht den Herrn der östlichen Sümpfe: Der Tümpelkönig war alles mögliche - aber ein Mann des Krieges war er nicht!

»Es ist als ... als würden wir etwas verlieren«, murmelte Brobing hilflos. »Und wir wissen nicht einmal, was.« Kim dachte plötzlich an das Bild zurück, das er kurz vor Sonnenuntergang gesehen hatte: den erstarrten Eisenmann, der am Fuße der Leiter stand und die Hand über das Land ausstreckte, als wolle er es an sich reißen.

»Sind es ... die Eisernen?« fragte er. .

Brobing schien ehrlich überrascht. »Die Eisernen?« Er schüttelte den Kopf und hätte beinahe gelacht. »Oh nein, Herr, da täuscht Ihr Euch. Sie sind unsere Freunde und Diener. Ohne sie wäre alles noch viel schlimmer, glaubt mir.«

»Als ich das erste Mal hier war«, antwortete Kim, »verschwanden keine Kinder. Und es gab noch keine Eisenmänner.«

»Es ist leicht, einen Sündenbock zu finden«, erwiderte Brobing, »aber nicht richtig.«

Noch bevor Kim antworten konnte, schoß ein dumpfer Schmerz durch seinen bandagierten Arm, und er preßte mit einem Stöhnen die Zähne zusammen.

»Ist es schlimm?« Brobing sah ihn besorgt an.

Kim schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Wimmern. »Nein«, sagte er gepreßt. »Oh verdammt - ich verstehe einfach nicht, was in Kelhim gefahren ist.«

»Ich sagte Euch bereits - er ist zum wilden Tier geworden.«

»Es fällt mir so schwer, das zu glauben«, antwortete Kim. »Auch, wenn ich es am eigenen Leib gespürt habe. Er hat... viele getötet, sagst du?«

»So ist es«, bestätigte Brobing traurig. »Er ist ein Raubtier. Manche Bauern sind weggezogen, aus Furcht vor ihm. Hätten wir Brokk nicht, dann wären auch wir längst geflohen, denn unser Hof liegt sehr nahe bei seiner Höhle. Wüßten unsere Nachbarn, wie nahe sie ist, wären sie längst dorthin gegangen, um Kelhim zu erschlagen. Seit langem versuchen sie, ihn zu stellen, aber in den Wäldern, außerhalb der Höhle, ist er ihnen überlegen, ganz egal, wie viele sie sind.«

Kim dachte an den raschen, erschrockenen Blick zurück, den Brobing vorhin seiner Frau zugeworfen hatte. »Ihr wißt, wo seine Höhle ist, und habt es ihnen nicht gesagt?« vergewisserte er sich.

Brobing schüttelte den Kopf. »Ich müßte es tun, ich weiß«, sagte er schuldbewußt, »aber ich kann es nicht. Einst hat er zusammen mit Euch und Euren Freunden unser aller Leben gerettet. Ich kann ihn jetzt nicht ausliefern, auch wenn er gefährlich ist.«

»Das verstehe ich nicht.« Kim konnte es nicht fassen. »Kelhim ein blutrünstiges Ungeheuer! Wie ist das gekommen?«

»Auch das gehört zu den Veränderungen, von denen ich sprach, Herr«, antwortete Brobing. »Die Tiere beginnen das Sprechen zu verlernen, viele werden gefährlich. Die Wälder sind nicht mehr sicher. Niemand geht noch nach Dunkelwerden und ohne Waffen aus dem Haus.«

Was hatte Brobing im Wald gesagt: Es gehen schlimme Dinge im Land vor? Kim fröstelte.

»Ich werde herausfinden, was hier geschehen ist, Brobing«, versprach er. »Gleich morgen früh werde ich nach Gorywynn aufbrechen, um Themistokles zu finden.«

VI

Er brach am nächsten Tag nicht nach Gorywynn auf. Die zweitägige Wanderung durch das Sumpfland schien doch mehr an Kims Kräften gezehrt zu haben, als er selbst eingestehen wollte, und er schlief wie ein Stein. Brobing und seine Frau erzählten jedenfalls hinterher übereinstimmend, daß sie beide mehrmals versucht hätten, ihn aufzuwecken, aber ohne Erfolg. Als Kim von selbst erwachte, war der Tag schon mehr als zur Hälfte vorbei.

Das war ärgerlich. Aber der Schlaf in einem richtigen, weichen Bett und das Essen hatten Kim gutgetan, und er fühlte sich zum erstenmal seit Tagen wieder wirklich ausgeruht und erfrischt. Nachdem Jara ihm ein ebenso verspätetes wie reichhaltiges Frühstück zubereitet hatte, wandte er sich mit der Bitte an Brobing, ihm ein Pferd zu leihen, damit er sich auf den Weg nach Gorywynn machen konnte. Aber der Bauer lehnte ab. »Es ist zu spät«, sagte er. »Die nächste Stadt liegt am Fluß, und bis dahin ist es ein guter Tagesritt, selbst wenn man keine Rast einlegt. Das schafft Ihr heute nicht mehr.«