»Ich kann unter freiem Flimmel übernachten«, meinte Kim. Die Vorstellung, einen weiteren Tag zu verlieren, behagte ihm nicht. »Das macht mir nichts aus.«
»Das glaube ich Euch gerne«, antwortete Brobing. »Aber es ist zu gefährlich. Habt Ihr Kelhim vergessen?« Er machte eine entschiedene Handbewegung, als Kim widersprechen wollte, und fuhr mit leicht erhobener Stimme fort: »Das ganze Land von hier bis zum Fluß ist sein Revier. Tagsüber greift er selten an, und wenn, könnt Ihr ihm sicher ausweichen - ich werde Euch Sternenstaub geben, meinen besten Hengst. Aber nachts ist es zu gefährlich.«
Kim schluckte die Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag; zumal ihm auch der besorgte Blick nicht entgangen war, den Brobing und Jara tauschten. Die beiden sorgten sich wirklich um ihn. Und das letzte, was er wollte, war, ihren Schmerz noch zu vertiefen. Sie sollten nicht um ihn bangen müssen.
»Möchtet Ihr Sternenstaub kennenlernen?« fragte Brobing plötzlich.
Kün nickte begeistert. Er liebte Tiere und vor allem Pferde. Rasch sprang er auf und folgte Brobing aus dem Haus. Sie gingen zu einem der großen Ställe, die sich hinter dem Hauptgebäude erhoben. Erneut fiel ihm auf, um wie vieles größer dieser Hof war, als der, den Brobing und die Seinen früher bewohnt hatten. Als der Bauer dies merkte, sagte er voller unübersehbarem Stolz: »Wir sind lange durch das Land gezogen, ehe wir einen Flecken Erde fanden, auf dem wir uns niederlassen konnten«, erklärte er. »Aber es hat uns nicht gereut. Dieser Ort ist beinahe noch schöner als der, an dem wir damals lebten.«
»Und dein Land ist größer«, fügte Kim hinzu.
»Sechs Tagwerke, in jeder Richtung«, bestätigte Brobing. »Und erst im letzten Winter haben wir eine Quelle mit Bitterwasser entdeckt.«
»Bitterwasser?«
»Man füllt es in Lampen, und es brennt viele Stunden«, erklärte Brobing.
»Petroleum«, sagte Kim. »Ihr meint Petroleum.«
»Nennt man es da, wo Ihr herkommt, so?« Kim nickte, und Brobing fuhr mit einem Lächeln fort: »Im nächsten Jahr werde ich ein paar Männer einstellen, die mir helfen, es zu fördern und in Krüge abzufüllen, damit wir es auf dem Markt in der Stadt verkaufen können.«
»Ihr müßt viele Knechte haben, um einen so großen Hof bewirtschaften zu können«, stellte Kim fest, aber Brobing schüttelte abermals den Kopf.
»O nein«, antwortete er. »Nur die beiden Mägde, die Ihr gesehen habt, und einen Mann - und mich selbst natürlich.«
Kim blickte zweifelnd über die lange Reihe von nebeneinandergebauten Stallungen und Scheunen, dann über die Felder, die hinter dem Hof begannen und sich erstreckten, so weit das Auge reichte. »Aber wie schafft Ihr dann all diese Arbeit?« wunderte er sich.
Abermals lächelte Brobing. »Warum nicht?« Er lachte, als er Kims verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte. »Ich erkläre es Euch - später«, versprach er. »Aber jetzt laßt uns zu Sternenstaub gehen. Er ist sicher schon ganz begierig darauf, seinen neuen Herrn kennenzulernen.«
Sie betraten den Stall, in dem sich in zwei langen Reihen beiderseits der Tür mindestens dreißig großzügige hölzerne Verschlage befanden. Die meisten davon standen zwar leer, aber Kim schätzte trotzdem, daß Brobing ein gutes Dutzend Pferde besaß. In einer Gegend wie dieser schon ein wenig mehr als nur ein kleines Vermögen. Das Leben des Bauern schien sich tatsächlich grundlegend geändert zu haben, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte.
Sie steuerten die letzte der Boxen an. Brobing blieb zwei Schritte davor stehen und deutete mit einer einladenden Geste auf das Tier, das darin stand.
Kim riß erstaunt die Augen auf. Jedes einzelne Pferd hier im Stall war ein Prachttier - es waren ausnahmslos Reitpferde, keine Ackergäule, wie Kim mit kundigem Blick bemerkt hatte -, aber Sternenstaub war das mit Abstand prachtvollste Tier. Der Hengst war riesig und von nachtschwarzer Farbe, in die winzige weiße Tupfen eingestreut waren, als wäre sein Fell mit Millionen von Sternen besprenkelt. Seine großen, klugen Augen blickten Kim an, als wüßte er ganz genau, wen er vor sich hatte, und als Kim nach einer Weile des Staunens behutsam näher trat, senkte das Pferd den Kopf und ließ es zu, daß ihm der Junge zärtlich die Nüstern streichelte. »Er ist... wunderbar«, sagte Kim.
»Ich weiß«, antwortete Brobing. »Es ist mein schnellstes Pferd. Torum sollte es haben, später einmal.«
»Aber das kann ich nicht annehmen«, sagte Kim, ohne daß es ihm indes möglich war, den Blick von dem prachtvollen Hengst loszureißen. »Ich ... ich kann Euch nicht versprechen, daß ich ihn zurückbringe. Der Weg nach Gorywynn ist weit -«
»- und voller Gefahren«, unterbrach ihn Brobing. »Eben darum bestehe ich darauf, daß Ihr Sternenstaub nehmt. Ich möchte nicht, daß Euch unterwegs etwas zustößt, nur weil Ihr vielleicht auf einer klapperigen Mähre reitet.«
»Aber wenn er Eurem Sohn gehören sollte -«
Abermals unterbrach ihn Brobing, und diesmal in einem Ton, der Kim begreifen ließ, daß er ihn beinahe unabsichtlich verletzt hätte. »Glaubt Ihr nicht, daß ich dieses Pferd gerne hergebe, wenn ich dafür hoffen darf, meinen Sohn zurückzubekommen?«
»Ich kann Euch nicht versprechen, daß ich Torum finde«, meinte Kim leise.
»Ich weiß das«, sagte Brobing. »Doch wenn es einer kann, dann Ihr. Und dabei braucht Ihr alle Hilfe, die Ihr bekommen könnt. Was ist schon ein Pferd?«
»Ein Pferd wie dieses?« Kim drehte sich nun doch zu Brobing herum. »Es muß sehr wertvoll sein«, sagte er. »Das ist es«, bestätigte Brobing. »Aber ich bin ein wohlhabender Mann. Und ohne Euch hätte ich nichts von alledem hier. Ohne Euch wäre ich nämlich tot - und meine Familie auch.«
Kim widersprach nicht mehr. Sie blieben noch eine Weile im Stall, und Brobing wartete geduldig, während sich Kim mit dem prachtvollen Hengst anfreundete und unentwegt auf ihn einredete, damit er sich an seine Stimme gewöhnte. Schließlich stieg er vorsichtig auf Sternenstaubs Rücken, und das Tier ließ es sich gefallen.
»Ich sehe schon, ihr werdet sicher gute Freunde werden«, sagte Brobing lachend, nachdem Kim endlich wieder vom Rücken des Hengstes herabgestiegen war. »Aber jetzt kommt. Ich zeige Euch den Hof - wenn Ihr wollt.«
Natürlich wollte Kim - wenn auch vielleicht aus anderen Gründen, als Brobing annehmen mochte. Ohne ein weiteres Wort folgte er dem Bauern.
Die nächsten Stunden vergingen wie im Fluge. Brobing zeigte Kim voller Stolz sein ganzes Anwesen - und es war wirklich gewaltig. Neben dem Dutzend Pferde besaß er an die hundert Schweine und Rinder und dazu eine Ziegenherde, von der er selbst lachend erklärte, daß er sie niemals gezählt hätte. Brobing hatte vorhin im Stall nicht übertrieben - er war tatsächlich ein sehr wohlhabender Mann geworden. »Aber wie könnt Ihr diesen riesigen Hof bewirtschaften?« wunderte sich Kim wieder.
»Kommt - ich zeige es Euch.« Lächelnd deutete der Bauer mit einer einladenden Geste auf das Feld, das unmittelbar ans Haus grenzte, und Kim folgte ihm dorthin.
Es war ein großer, zur Hälfte frisch umgepflügter Acker. Eine Gestalt bewegte sich weit entfernt am Ende der letzten Furche auf das Haus zu, wobei sie einen gewaltigen Pflug vor sich herschob.
»Wer ist das?« fragte Kim überrascht. Es erschien ihm schon seltsam, daß kein Pferd den Pflug zog - oder einer der Ochsen, die gleich zu Dutzenden in Brobings Stall standen. Aber vor allem hatte Kim niemals davon gehört, daß man einen Pflug vor sich herschob.
Er beschattete die Augen mit der Linken, um die einsame Gestalt auf dem Feld besser sehen zu können. Sie war groß und von dunkler, rostroter Farbe, und ihre Bewegungen waren ebenso eckig und steif wie ihre Umrisse.
»Der ... Eisenmann?« entfuhr es ihm überrascht.
Brobing nickte. »Brokk verrichtet fast alle Arbeiten hier auf dem Hof«, sagte er. »Er pflügt die Felder und bringt die Ernten ein, schert die Schafe und schlachtet die Schweine und Ziegen. Und zwischendurch erledigt er noch alle Reparaturen, die anfallen. Den größten Teil der Ställe, die ich Euch gezeigt habe, hat er ganz allein gebaut. Ich wüßte wirklich nicht, was ich ohne ihn täte. Und Ihr hattet Angst vor ihm«, fügte er kopfschüttelnd hinzu.