Nachdem die Sonne untergegangen war, zog sich Kim zurück. Er sei müde, gab er vor, und müsse schließlich am nächsten Morgen in aller Frühe aus dem Bett. Das entsprach zwar der Wahrheit, war aber nicht wirklich der Grund, aus dem er kurz nach Dunkelwerden freiwillig zu Bett ging; derartiges wäre ihm sonst nicht im Traum eingefallen. Aber Kim schloß aus der Bedrückung der beiden Bauersleute, daß sie sich etwas zu sagen hatten, bei dem sie allein sein wollten; sie waren nur einfach zu höflich, dies ihrem Gast zu sagen. So lag Kim ungewohnterweise sehr zeitig im Bett. Fast eine Stunde lang lag er so mit offenen Augen und hinter dem Kopf verschränkten Händen in Torums Kammer, starrte die weißgekalkte Decke über seinem Kopf an und versuchte, Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Vergeblich. Alles war so verwirrend und beunruhigend, daß er nur Kopfschmerzen bekam, je länger er versuchte, Ordnung in das Durcheinander hinter seiner Stirn zu bringen. Schließlich stand er wieder auf und lief unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Es war noch nicht spät; sicherlich waren Brobing und seine Frau Jara noch auf. Kim würde tun, was er gleich hätte tun sollen - sie einfach fragen, was das alles hier zu bedeuten hatte: der Zwerg Jarrn und dieser Eisenmann und die sonderbare Veränderung, die mit Brobing und seiner Familie, ja mit ganz Märchenmond vor sich ging. Der Bauer wußte mehr, als er ihm bisher verraten hatte, da war Kim sicher.
Leise öffnete er die Tür. Jaras und Brobings Stimmen drangen gedämpft aus der Stube unten im Erdgeschoß zu ihm herauf, als er auf den Flur trat. Kim konnte die Worte nicht verstehen, aber der heftige Klang der Stimmen erschreckte ihn - stritten die beiden miteinander? Kim blieb stehen, lauschte einen Moment und ging dann auf Zehenspitzen weiter. Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, die Bauersleute zu belauschen, nachdem sie so freundlich und hilfsbereit zu ihm gewesen waren - und doch hatte er das Gefühl, daß es so besser war.
»... ich verstehe dich ja!« hörte er Brobings Stimme. »Aber er wird es merken. Ich habe ihm gesagt, es ist ein scharfer Tagesritt bis zum Fluß - was soll ich ihm erzählen, wenn er herausfindet, daß es nicht einmal eine Stunde ist?« Kim wurde hellhörig: Brobing hatte ihn belogen? Aber warum denn?
»Er muß es ja nicht herausfinden«, antwortete die Frau. »Jedenfalls nicht sofort. Laß ihn noch hierbleiben, Brobing. Nur einen Tag noch. Oder zwei.«
»Oder eine Woche, nicht wahr?« Brobing seufzte, und Kim konnte sein Kopfschütteln direkt hören. »Jara - glaub mir, ich begreife dich. Ich verstehe dich nur zu gut. Auch mir bricht Torums Verlust das Herz. Aber Kim ist nicht unser Sohn. Und er wird es auch nie werden!«
»Vielleicht... gefällt es ihm ja hier«, beharrte Jara. »Wenn er eine Weile bleibt, wird er merken, wie schön es hier ist. Wir können ihm alles bieten, was er sich wünschen kann.«
»Er ist nicht hier, weil er sich etwas wünscht«, sagte Brobing, jetzt in fast sanftem Ton. »Du weißt das, Jara. Du ...« Kim hörte nicht weiter zu. So leise, wie er gekommen war, schlich er wieder in sein Zimmer zurück und schloß die Tür hinter sich. Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Das wenige, das er gehört hatte, reichte ihm. Brobing hatte ihn tatsächlich belogen - weil Jara nicht wollte, daß Kim ging. Aber sie konnte sich doch nicht im Ernst einbilden, daß er einfach hierbleiben und ihr den verlorenen Sohn ersetzen konnte! Der Gedanke erfüllte Kim mit Zorn - aber nur für einen ganz kurzen Moment, denn fast im gleichen Augenblick begriff er, warum Jara das getan hatte. Brobing hatte selbst gesagt - der Verlust des Sohnes brach ihr das Herz. Und Menschen, die verzweifelt sind, tun auch manchmal verzweifelte Dinge. Kim spürte keinen Zorn mehr. Jara tat ihm leid.
Statt in die Stube hinunterzugehen, wie Kim es vorgehabt hatte, setzte er sich auf das Bett und wartete. Er mußte fort, nicht morgen früh, sondern noch heute nacht - Kelhim hin oder her. Wenn Jara aufstand, dann würde sie einen Zettel auf Kims Nachtschränkchen vorfinden, auf dem er ihr mitteilte, daß er in aller Frühe und ganz leise aufgebrochen war, um sie und ihren Mann nicht zu stören.
Er saß und wartete, bis es auf dem Hof und im Haus still geworden war. Es dauerte lange. Kims Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn Jara und ihr Mann redeten noch lange. Kim schätzte, daß es bereits auf Mitternacht zuging, ehe er es endlich wagte, aufzustehen und das Ohr gegen das Holz der Tür zu pressen, um zu lauschen.
Es herrschte vollkommene Stille. Alles, was Kim hörte, war das Rauschen in seinen eigenen Ohren. Behutsam drückte er die Klinke herunter, schob die Tür einen Spaltbreit auf und lauschte noch einmal. Nichts rührte sich. Aber gerade, als Kim das Zimmer verlassen wollte, um auf Zehenspitzen aus dem Haus zu schleichen, glaubte er ein Geräusch hinter sich zu vernehmen. Erschrocken drehte er sich herum.
Nichts. Er war allein. Das Zimmer war dunkel und leer und still. Und doch, da war etwas, er hörte es immer noch - ein sonderbares Knarren und Ächzen, das er sich nicht erklären konnte.
Vorsichtig - und ein wenig ängstlich - schloß Kim die Tür und trat in sein Zimmer zurück, um es gründlich - und völlig ergebnislos - zu durchsuchen. Erst, als er sich dem Fenster näherte, merkte er, daß die Geräusche gar nicht aus seinem Zimmer, sondern vom Hof kamen. Es war eine sehr warme Nacht, deshalb stand das Fenster offen. Da auf dem Hof vollkommenes Schweigen eingekehrt war, drang jeder Laut doppelt deutlich herein. Darauf bedacht, stets im Schatten zu bleiben, um von unten nicht gesehen zu werden, blickte Kim hinaus.
Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an das silberne Mondlicht draußen zu gewöhnen. Dann erschrak er so heftig, daß er um ein Haar aufgeschrien hätte.
Neben der Scheune stand ein gewaltiger Schatten; größer, viel größer als ein Mensch und im verwirrenden Licht des Mondes nicht mehr als ein schwarzer, bedrohlicher Schemen. Im allerersten Moment war Kim fest davon überzeugt, daß es sich um niemand anderen handelte als Kelhim, der gekommen war, um zu vollenden, was er vor zwei Tagen begonnen hatte. Aber dann sah er, daß der Umriß zwar gewaltig wie der des Bären war, aber zu eckig und viel zu plump. Außerdem hatte Kelhim kein grünleuchtendes Auge!
Es war Brokk.
Was um alles in der Welt tat der Eisenmann dort draußen, mitten in der Nacht? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, denn neben dem riesigen Schatten des Eisenmannes tauchte plötzlich ein zweiter, sehr viel kleinerer Schatten auf, mit dürren Armen und Beinen und einem Umhang, der in einer spitzen Kapuze endete: Jarrn.
Die beiden waren viel zu weit vom Haus entfernt, als daß Kim verstehen konnte, was der Zwerg zu Brokk sagte, aber er sah, wie der Kleine heftig mit beiden Armen in der Luft herumfuchtelte und dabei immer wieder auf das Haus - und das Fenster zu Kims Zimmer! - deutete.
Einen Augenblick später drehte sich Brokk mit schwerfälligen Bewegungen herum und stampfte auf das Haus zu. Kims Herz machte einen entsetzten Hüpf er bis zum Hals hinauf, wo es doppelt schnell und hart weiterzuklopfen schien. Der allererste Impuls war, herumzufahren und aus dem Haus zu stürmen, so schnell wie nur möglich. Aber Kim sah sehr rasch ein, daß es dafür zu spät war. Brokk war nicht sehr gewandt, aber die Scheune war auch nicht besonders weit entfernt - der Eisenmann würde das Haus längst erreicht haben, ehe Kim aus dem Zimmer, den Flur entlang und die Treppe hinuntergerannt war. Außerdem bestand die Gefahr, daß Brobing und Jara dadurch aufwachten und Brokk ihnen etwas zuleide tat, wenn sie sich dem Eisenmann etwa in den Weg stellten.
So wartete Kim mit klopfendem Herzen, bis der Eisenmann das Haus umkreist hatte und sein Fenster nicht mehr sehen konnte, dann schwang er sich mit einer entschlossenen Bewegung auf den Sims, atmete tief ein - und sprang die drei Meter in die Tiefe.