Der Aufprall war weniger hart, als Kim erwartet hatte. Trotzdem verlor er das Gleichgewicht, überschlug sich drei-oder viermal und kam taumelnd auf Händen und Knien hoch und blickte direkt in ein schmutziges Zwergengesicht, das ihn unter der spitzen Kapuze heraus verblüfft anstarrte. Aber Jarrn hatte das Pech, eine Sekunde später als Kim aus seiner Verblüffung zu erwachen. Er klappte eben den Mund auf, um loszuschreien, da hatte ihn Kim schon am Kragen gepackt und zerrte ihn so grob in die Höhe, daß aus dem Schrei nur ein Gurgeln wurde.
Kim sah sich gehetzt um. Brokk war hinter dem Haus verschwunden und stapfte jetzt wahrscheinlich gerade die Treppe hinauf. Bis er Kims Zimmer erreicht und festgestellt hatte, daß es leer war, würde sicherlich noch eine Minute vergehen. Und wahrscheinlich eine zweite, bis er den ganzen Weg wieder zurückgeruckelt war. Das war erbärmlich wenig Zeit - aber vielleicht genug, den Stall zu erreichen. Außerdem - welche Wahl hatte Kim schon? Er rannte los, wobei er den heftig strampelnden Zwerg einfach hinter sich herzog. Der spuckte keuchend Gift und Galle, aber Kim hielt ihn unerbittlich fest - gerade so, daß Jarrn noch Luft zum Atmen bekam, doch nicht genug, um loszuschreien. Das Schienbein blaugetreten und den einen Arm völlig zerkratzt, stürmte Kim in die Scheune, ohne auf die wilden Angriffe Jarrns zu achten, und rannte auf die letzte Box in der langen Reihe zu. Sternenstaub hob den Kopf und blickte ihn an, als er näher kam. Kim jubelte innerlich, als er sah, daß der Hengst bereits Satteldecke und Zaumzeug trug. Der Sattel selbst hing über der Tür des Verschlages, aber Kim hatte Übung darin, Pferde aufzuzäumen. Er brauchte kaum eine Minute, den Sattel aufzulegen und wenigstens notdürftig zu befestigen. Jarrn hielt er dabei einfach unter dem linken Arm geklemmt, wo dieser geifernd weiterzappelte. Aber als Kim die Tür der Box geöffnet hatte und sich in den Sattel schwingen wollte, blickte er unversehens in ein Paar dunkler Triefaugen, die ihm aus einem abgrundtief häßlichen Gesicht entgegenstarrten.
»Du schuldest mir noch einen Fisch«, erklang es da. Und Bröckchen schnüffelte in Jarrns Richtung, dann machte es ein unanständiges Geräusch. »Du willst mir doch nicht den da andrehen, oder? Den will ich nicht.«
Kim atmete hörbar auf. Der Schreck hatte ihn ordentlich gepackt, vorhin. Jetzt war er froh wie schon lange nicht. »Bröckchen«, sagte er. »Ich muß weg.«
Er machte Anstalten, sich in den Sattel zu schwingen, aber dort saß Bröckchen und rührte sich nicht von der Stelle.
»Du bist mir noch etwas schuldig«, beharrte Bröckchen. »Ich kann jetzt nicht«, stöhnte Kim. Aber er sah ein, daß es wenig Sinn hatte, die kostbare Zeit mit einem Streit um einen Fisch zu verschwenden. »Gut«, sagte er. »Ich fange dir deinen Fisch. Komm mit.«
Bröckchen überlegte eine Weile mißtrauisch, dann kroch es jedoch gehorsam nach vorne und krallte sich in Sternenstaubs Mähne fest, so daß Kim endlich in den Sattel steigen konnte. Den Zwerg, der immer noch krächzend um sich schlug, packte er dabei unsanft vor sich auf das Pferd. »Laß mich los! Willst du mir alle Knochen im Leib brechen?« keuchte Jarrn, als sich Kims Hand an seinem Kragen kurz lockerte.
»Keine schlechte Idee«, knurrte Kim grimmig, während er Sternenstaub auf das Tor zu lenkte. »Aber vorher werden wir uns noch ausführlich unterhalten, sobald wir ein paar Meilen weit weg sind - los, Sternenstaub!«
Tatsächlich machte das Pferd einen gewaltigen Satz - blieb aber so ruckartig wieder stehen, daß es Kim um ein Haar abgeworfen hätte, während Bröckchen in einem Salto über seinen Kopf hinwegsegelte.
Unter der Stalltür war ein gewaltiger Schatten erschienen. Groß, eckig und schwarz wie die Nacht verwehrte er ihnen den Weg. Sein grünes Auge funkelte boshaft.
»Ha!« schrie Jarrn. »Damit hast du wohl nicht gerechnet. Jetzt wollen wir sehen, wo deine große Klappe bleibt!« Brokk machte einen einzelnen, schwerfälligen Schritt, unter dem der ganze Stall zu erbeben schien. Sternenstaub tänzelte auf der Stelle, und auch die anderen Pferde begannen in ihren Boxen unruhig zu werden.
»Pack ihn, Brokk!« kreischte Jarrn. »Reiß ihm die Rübe runter! Ich befehle es dir!«
Brokk machte einen weiteren Schritt. Seine fürchterliche Schaufelhand klappte auf, und die Stahlzähne daran blitzten wie das Gebiß eines Raubtieres im Dunkeln.
Kim ließ den Hengst vorspringen, daß es beinahe schien, als wollte er Brokk einfach über den Haufen reiten, riß im letzten Moment mit aller Macht an den Zügeln und warf sich zurück. Sternenstaub schrie vor Schmerz und Überraschung und bäumte sich auf. Seine wirbelnden Vorderhufe trafen Brokks eisernen Schädel mit einem Laut, als schlüge er eine gewaltige Glocke an. Kim konnte sehen, wie der Eisenmann unter den Hufschlägen erzitterte.
Er wankte - aber er fiel nicht.
Sternenstaub wieherte vor Angst und tänzelte ein Stück zurück. Und Kim entging nur noch durch eine verzweifelte Bewegung im Sattel der riesigen Schaufelhand, die ihn packen wollte. Brokk begann, ihn in die Enge zu treiben. Sternenstaub mußte Schritt für Schritt zurückweichen, und so plump der Eisenmann war, der Platz im Stall reichte einfach nicht aus, um an ihm vorbeizupreschen!
»Nur zu, Brokk!« brüllte Jarrn. »Pack ihn!« Und Kim tat das einzige, was ihm noch einfiel - er packte den Zwerg mit beiden Händen, riß ihn hoch über den Kopf und warf ihn wie ein lebendes Geschoß auf den Eisenmann.
Jarrn kreischte markerschütternd, und Brokk hob blitzschnell die Arme, um seinen Meister aufzufangen. Es gelang ihm - allerdings mit der falschen Hand: jener mit der Schaufel dran.
Als Kim tief über Sternenstaubs Rücken gebeugt an ihm vorbeipreschte, hörte er einen Laut wie eine zuschnappende Bärenfalle, und aus Jarrns wütendem Brüllen wurde ein schmerzhaftes Röcheln. Aber da war Kim schon aus dem Stall heraus und raste tief über Sternenstaubs Hals gebeugt in die Nacht hinein.
VII
Eigentlich hatte er vorgehabt, sich nach Süden zu wenden, zum Fluß hin und zur Stadt, von der Brobing gesprochen hatte. Aber das Gelände wurde zunehmend schwieriger, und als sich die erste Erregung legte, da wurde Kim sehr rasch klar, daß Jarrn, falls er überlebt hatte, ihn dort sicherlich zuallererst suchen würde. Dazu kam, daß Sternenstaub nach einer Weile anfing, zu humpeln.
Zuerst merkte Kim es kaum; allenfalls, daß die Schritte des prachtvollen Hengstes ein wenig langsamer wurden und dabei etwas von ihrer Geschmeidigkeit verloren. Doch bald fiel Kim auf, daß Sternenstaub den rechten Vorderlauf nur noch zögernd aufsetzte und ganz rasch wieder hob, als hätte er Schmerzen.
Besorgt, daß sich der Hengst bei seinem Angriff auf Brokk womöglich verletzt haben könnte, hielt Kim an, kletterte aus dem Sattel und beugte sich vor. Trotz des Mondes, der sich jetzt gerundet hatte, war es sehr dunkel, und er konnte zumindest auf den ersten Blick keine Verletzung erkennen. Aber plötzlich zog Sternenstaub mit einem erschrockenen Wiehern das Bein zurück, und als Kim ein zweites Mal und sehr viel vorsichtiger Zugriff, da spürte auch er ein plötzliches Brennen und sah einen Blutstropfen auf seinem Finger schimmern, als er die Hand erschrocken zurückzog.
Sehr vorsichtig griff er noch einmal nach dem Lauf des Pferdes, das nervös mit dem Schwanz peitschte und Kim aus großen, klugen Augen ansah, doch ohne sich zu regen, als spüre es genau, daß man ihm nicht weh tun wollte. Dicht unter dem Knie steckte ein fingerlanger, nadelspitzer Stachel im empfindlichen Fleisch des Tieres.
Kim zog ihn heraus, warf ihn angewidert davon und suchte das Bein des Pferdes sorgfältig nach weiteren Stacheln ab, fand aber keine. Dafür fand Kim etwas anderes.
Als er, halbwegs unter dem Bauch des Pferdes liegend, den Kopf hob, blickte er in ein kleines, abscheuliches Antlitz. Es war Bröckchen, das sich offenbar im letzten Moment an den Sattelgurt geklammert und daran bis jetzt festgehalten hatte. Kein Wunder, daß Sternenstaub kaum noch laufen konnte. Es war ungefähr so, als hätte ihm jemand ein großes Nadelkissen unter den Bauch geschnallt!