Auch nicht, als Kelhim endlich aus seiner Starre erwachte und sich langsam auf Kim zuzubewegen begann. Sein Blick glitt mißtrauisch durch die Höhle, und er schnüffelte wie ein Hund, der Witterung aufnahm. Vielleicht fürchtete er einen Hinterhalt. Mit einem einzigen Sprung und einem einzigen Prankenhieb hätte der Bär Kim erreichen können, um ihn auf der Stelle zu töten, aber er kam nur mit ganz kleinen, vorsichtigen Bewegungen näher.
Kim hob das Licht ein wenig höher, so daß sein Schein fast die ganze Höhle erfüllte. Die Schatten schienen einen wirren Tanz ringsherum aufzuführen, so sehr zitterte Kims Hand, die die Fackel hielt. Trotzdem wich er keinen Schritt zurück, als Kelhim auf ihn zutrottete.
Schließlich war es der Bär, der stehenblieb. Und wider besseres Wissen schien es Kim, als sei ein verblüffter Ausdruck auf Kelhims einäugigem Gesicht zu erkennen, während er das bibbernde Menschenkind vor sich betrachtete. Für seine empfindliche Bärennase roch es wahrscheinlich nach Angst wie eine ganze Schafsherde, die einen Wolf erblickt hatte, aber keine Anstalten machte, zu fliehen. »Hal-1-l-lo, Kelhim«, stotterte Kim. Seine Stimme klang ihm fremd in den Ohren, so sehr zitterte sie. »F-f-f-f-reust d-d-du d-dich, mich w-w-wiederzusehen?«
Kelhim starrte ihn weiter an, dann brüllte er auf, daß die ganze Höhle erbebte. Erde und kleine Steinchen rieselten von den Wänden.
»Ich bin es, Kelhim!« rief Kim verzweifelt. »Erinnere dich! Du kennst mich! Wir sind doch Freunde!«
Kelhim richtete sich auf die Hinterläufe auf, bleckte die gräßlichen Zähne und klappte zehn Krallen aus seinen Vordertatzen heraus, die jede einzeln die Abmessung eines kleinen Dolches hatten. Mit einem einzigen, wiegenden Schritt kam er näher.
Alles in Kim schrie danach, zurückzuweichen, aber er beherrschte seine Angst und blickte Kelhim tapfer ins Auge - und tatsächlich: Der Bär zögerte noch einmal. Etwas wie Verwirrung erschien in seinem Blick und dann ein sonderbarer Ausdruck: Trauer, Schmerz und ein Funken Erinnerung, aber auch unbezähmbare Wut.
»Kelhim!« flehte Kim. »Besinne dich! Wir sind Freunde! Weißt du nicht mehr: die Schlacht um Gorywynn. Unsere Reise auf Rangarigs Rücken!«
Kelhims Knurren wurde tiefer, kehliger. Der Bär wankte. Es sah aus, als erleide er unsagbare Schmerzen.
Und wirklich. Kim sah, wie das Tier einen verbissenen Kampf mit etwas in sich ausfocht, das wohl die ganze Zeit über dagewesen, aber vergessen war, tief, tief vergraben unter den Instinkten des Raubtieres.
»Bitte, Kelhim!« flehte er. »Erinnere dich. Wir -«
Das Raubtier gewann. Kim hatte nicht einmal Zeit, Schrecken zu empfinden, da schlug Kelhims Pranke zu und schleuderte ihn quer durch die Höhle bis an die rückwärtige Wand, wo er keuchend liegenblieb. Die Fackel wurde Kims Hand entrissen und segelte in hohem Bogen davon, erlosch aber nicht.
»Kelhim!« stammelte Kim. »Bitte nicht! Wir sind doch Freunde!«
Kelhim knurrte, ließ sich wieder auf alle viere nieder und kam mit gebleckten Zähnen näher.
»Nein!« kreischte Kim und hob schützend die Hände über den Kopf. »Kelhim! Bitte!«
Plötzlich blieb das Untier stehen, denn vor dem Höhleneingang waren zwei weitere Schatten erschienen, ein winziger und ein gewaltiger, und eine meckernde Stimme höhnte: »B-b-b-bitte n-n-nicht, Kelhim. Wir sind doch F-f-f-freunde!«
Kelhim drehte mit einem zornigen Knurren den Kopf, während draußen jemand mit trippelnden Schritten näher kam und fortfuhr, Kims Stimme spöttisch nachzuäffen: »Er wird dich f-f-f-fressen, dein F-f-f-freund, du Narr. Da bin ich ja gerade noch zur rechten Zeit gekommen, um das Beste nicht zu verpassen, w-wie?« Der Zwerg kicherte wie irre und begann abwechselnd auf dem rechten und dem linken Bein zu hüpfen, wobei er vor lauter Vergnügen auf die Schenkel schlug: Jarrn!
Kelhims Blick wanderte unschlüssig zwischen Kim und dem geifernden Zwerg hin und her, und Kim konnte sehen, wie es hinter seiner zottigen Stirn arbeitete. Dann drehte der Bär sich schwerfällig zu Jarrn herum und richtete sich abermals auf die Hinterbeine auf.
Jarrn hörte auf, sich wie Rumpelstilzchen zu gebärden. Er machte eine knappe Handbewegung, und hinter ihm trat Brokk in die Höhle, die Eisenklaue drohend geöffnet. »Bleib bloß stehen, du zu groß geratener Teddybär!« sagte der Zwerg böse. »Nimm den da.« Er deutete auf Kim. »Das dürfte reichen, deinen Hunger zu stillen. Oder überlaß ihn mir. Ich habe noch eine Rechnung mit ihm zu begleichen.«
»Kelhim!« wimmerte Kim. »Hilf nur!«
Und was seine Appelle an ihre alte Freundschaft nicht vollbracht hatten - sein geflüsterter Hilferuf tat es. Kelhim starrte ihn an, dann fuhr er herum und warf sich mit einem ungeheuerlichen Brüllen auf den Eisenmann.
Was nun folgte, das kam Kim selbst später, wenn er daran zurückdachte, wie ein Alptraum vor. Die beiden Giganten prallten mit unbeschreiblicher Wucht aufeinander, daß die ganze Höhle erzitterte. Kelhim brüllte und schrie, während seine gewaltigen Pranken auf Kopf und Schultern des stählernen Riesen herunterkrachten. So gewaltig waren seine Schläge, daß der eiserne Riese wankte. Dieser selbst kämpfte schweigend und lautlos, doch seine Hiebe waren nicht minder wuchtig. Immer wieder traf Brokks grauenhafte Baggerhand den Bären, und man konnte sehen, wie Kelhims Kräfte allmählich nachzulassen begannen. Denn im Gegensatz zu ihm kannte sein eiserner Gegner weder Erschöpfung noch Schmerz - und so gewaltig Kelhims Kräfte auch waren, sie reichten nicht aus, die zollstarken Eisenplatten zu zerbrechen, aus denen Brokks Körper gemacht war.
Endlos, wie es schien, schlugen die beiden schwarzen Giganten aufeinander ein. Die Höhle wankte. Nahe des Eingangs brach ein ganzes Stück der Decke herunter und überschüttete Brokk mit Erdreich und Felstrümmern, ohne ihm aber etwas anhaben zu können. Am Ende begann schließlich der Bär zurückzuweichen.
Kelhim taumelte. Mehrere seiner Krallen waren abgebrochen, seine Pfoten und die Schnauze bluteten, und er knurrte voller Schmerz. Er erzitterte immer heftiger unter den Hieben der stählernen Klaue, die Brokk auf ihn herunterprasseln ließ.
»Kelhim ...« flüsterte Kim. Plötzlich begriff er, daß der Bär besiegt war - und daß der Eisenmann nicht aufhören würde, auf ihn einzuschlagen, bis sein Gegner tot am Boden lag. Kirns Augen füllten sich mit Tränen.
Jarrn begann schrill zu kichern. »Da siehst du, wieviel Angst ich vor dir habe, Teddybärchen!« kreischte er. »Keiner stellt sich mir in den Weg, ohne mit dem Leben dafür zu zahlen. Keiner!« Er hüpfte vor Vergnügen auf der Stelle und deutete mit dem dürren Zeigefinger wie mit einem. Dolch auf Kim. »Und du kommst als nächster dran! Aber für dich denke ich mir was Besonderes aus, du widerwärtiger Kerl!«
»Das mag sein«, sagte Kim leise. »Falls du genug Zeit hast.«
Und damit sprang er warnungslos vor und packte den Zwerg.
Jarrn war nicht ganz so unvorbereitet wie bei Kims Angriff kürzlich auf dem Hof - aber immer noch überrascht genug. Er versuchte, einen Dolch unter dem Mantel hervorzuziehen, aber Kim schnitt ihm die Bewegung ab und verpaßte ihm einen Tritt, der ihn zurückschleuderte und ihm die Waffe aus der Hand prellte. Aus den Augenwinkeln sah Kim, wie Brokk von seinem Opfer abließ und jäh herumfuhr. Aber noch ehe der Eisenmann die Bewegung auch nur halb zu Ende gebracht hatte, hatte Kim den Zwerg schon wieder erreicht, ihn auf die Füße gezerrt und ihm seinen eigenen Dolch an die Kehle gesetzt.
»Ruf Brokk zurück!« zischte Kim.
Er sprach nicht sehr laut, aber vielleicht war es gerade das, was Jarrn klarmachte, wie ernst er seine Drohung meinte. Der Zwerg schluckte und bog den Kopf in den Nacken, so weit er konnte, aber Kims Messerspitze folgte der Bewegung unerbittlich. Jarrn begann zu schielen, als er versuchte, die Klinge im Auge zu behalten.