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»Zurück!« schnarrte er. »Brokk! Laß ihn!«

Knapp hinter Kim stoppte der Eisenmann. Seine mörderische Klaue war bereits zum Zupacken geöffnet gewesen. »Schick ihn raus!« forderte Kim. »Er soll rausgehen! Brokk soll weggehen - zurück zu Brobings Hof!«

»Du -«

Kim half seinem Befehl mit einem Druck des Dolches nach, der Jarrns dünnen Hals ritzte, und der Zwerg hatte es plötzlich sehr eilig, mit krächzender Stimme zu rufen: »Du hast gehört, was er gesagt hat, Brokk! Geh zurück zu dem Bauernpack! Warte da auf mich!«

Der Boden unter Kims Füßen begann zu zittern, als sich der eiserne Koloß gehorsam umwandte und die Höhle verließ. Nach einigen Sekunden hörte Kim, wie er sich berstend und splitternd seinen Weg durch das Unterholz bahnte.

Langsam zog er die Messerklinge von Jarrns Hals fort, ohne den Zwerg aber loszulassen.

Obwohl sich Jarrn lautstark zu wehren begann, packte ihn Kim, riß einen Streifen von seinem Umhang und wickelte ihn mit dem Rest des Kleidungsstückes ein, bis der Zwerg einem schwarzen Geschenkpaket glich. Den abgerissenen Streifen benutzte Kim, um einen sicheren Knoten darumzubinden. Dann ließ er das Paket achtlos neben dem Eingang zu Boden fallen und eilte zu Kelhim zurück.

Was er sah, brach ihm schier das Herz.

Kelhim war zu Boden gestürzt. Seine Brust hob und senkte sich in rasenden, schnellen Stößen, und sein ganzes Gesicht war voller Blut. Sein einzelnes Auge blickte trübe, und aus seinem Brustkorb drang ein tiefes, mühsames Grollen und Rasseln, das Kim deutlicher als alles andere sagte, wie schwer verletzt der riesige Bär war.

»Kelhim«, flüsterte er. »Kelhim, was ... was ist mit dir?« Kelhim antwortete nicht, aber sein Blick suchte den Kims, und trotz des Schmerzes und der abgrundtiefen Verzweiflung darin sah Kim, daß er jetzt keinem wilden Tier mehr gegenüberstand. Kelhim war wieder zu dem geworden, was er einst gewesen war.

Aber um welchen Preis!

»Kelhim!« flüsterte Kim noch einmal, selbst der Verzweiflung nahe. »Was hast du?«

»Kim?« murmelte da der Bär. »Bist... du ... das?«

»Ja.« Kim ließ sich langsam neben dem mächtigen Schädel des Bären auf die Knie fallen und streckte die Hand nach seiner Schnauze aus. Seine Augen füllten sich mit Tränen, gegen die er jetzt nicht mehr kämpfte. Er wußte, daß Kelhim sterben würde. Brokks Schläge hatten etwas in seinem Körper zerbrochen. »Ja«, sagte Kim noch einmal. »Ich bin es, Kelhim.«

»Kim«, murmelte der Bär. Er versuchte sich zu bewegen, aber seine Kräfte reichten nicht mehr. »Du bist gekommen. Gut.«

»Sprich nicht«, sagte Kim schluchzend. »Schone deine Kräfte, Kelhim. Es wird alles wieder gut.« Seine Stimme brach. Er konnte nicht weitersprechen.

»Gut«, wiederholte Kelhim. Sein Blick begann sich zu verschleiern, und plötzlich ging sein Atem nur noch ganz, ganz langsam und mühevoll. »Geh nach ... Gorywynn«, flüsterte der Bär. »Du mußt... Themistokles befreien.«

»Befreien?« Kim fuhr auf. »Ist Themistokles denn gefangen?«

»Themistokles ...«, stöhnte Kelhim. »Geh und ... Themistokles ... Zwerge ... die ... die Kin ... der.«

Seine Stimme wurde immer schwächer. Kim verstand nur noch Wortfetzen.

»Warte!« rief er verzweifelt. »Bitte, Kelhim - du darfst nicht sterben!«

»Geh«, murmelte Kelhim mit letzter Kraft. »Die Zwerge ... geh nach ... noch ... ein ... Geh ... und ... Rette Märchenmond, kleiner Held ... Du kannst es.«

Und damit starb er, den mächtigen Schädel in Kims Armen, ohne noch ein einziges weiteres Wort zu sagen.

VIII

Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, fand sie Kim auf Sternenstaubs Rücken sitzend - Ewigkeiten, wie es schien, von jener furchtbaren Lichtung im Wald entfernt, unter der er seinen Freund wiedergefunden und für immer verloren hatte. Es war schlimmer gewesen als alles, was Kim sich hätte vorstellen können.

Er war sehr müde - und so niedergeschlagen, wie kaum jemals zuvor in seinem Leben. Stunden hatte er weit vorgebeugt in Sternenstaubs Sattel gesessen und den Hengst einfach traben lassen; Kims Hände hatten die Zügel nur umklammert, um sich daran festzuhalten, nicht um das Tier in eine bestimmte Richtung zu lenken. Und dabei waren ihm die Tränen über das Gesicht gelaufen, bis seine Augen schließlich leer und trocken waren und nur noch brannten. Er erinnerte sich kaum, wie er hierhergekommen war - geschweige denn, wo er hier sein mochte. Vor Kim breitete sich ein sanft gewelltes Grasland im ersten Licht des Morgens aus, und nicht mehr sehr weit entfernt erkannte er den Schatten einer gewaltigen Felswand, die fast die Hälfte des Horizonts zur Rechten einnahm. Das Licht war von einer sonderbaren, grünlichen Farbe, die Kim sich nicht erklären konnte - und um die er sich auch nicht kümmerte. Er erinnerte sich nicht einmal, die Felswand von weitem gesehen zu haben, obwohl sie massiv und hoch genug war, so daß man sie selbst bei Nacht nicht übersehen konnte.

Er fühlte sich leer und niedergeschlagen, und alles, was Kim empfand, war Schmerz und Trauer über den Verlust seines Freundes. Erst jetzt spürte er, wie viel ihm Kelhim wirklich bedeutet hatte. Es war, als müsse man einen Freund erst verlieren, um zu begreifen, wie wertvoll er einem gewesen war.

»Dort vorne ist ein See«, piepste eine Stimme vor ihm. Kim riß sich mühsam zusammen, fuhr sich mit dem Handrücken über die brennenden Augen und blickte auf das orange-rote Federbüschel herunter, das jetzt schön wie der Tag vor ihm auf Sternenstaubs Mähne saß.

»Du bekommst deinen Fisch, keine Sorge«, sagte Kim matt. Bröckchen blickte ihn aus seinen großen Rehaugen nachdenklich an und machte eine Bewegung, als wolle er ein menschliches Kopfschütteln nachahmen. »Ich meine nicht den Fisch - ausnahmsweise«, sagte es. »Dein Pferd braucht eine Rast - von dir ganz abgesehen.«

Kim wollte widersprechen, aber dann erschien ihm das viel 7U mühsam. Er seufzte nur, griff zum erstenmal seit dem vergangenen Abend nach Sternenstaubs Zügeln, um seine Richtung zu ändern, und bemerkte erst jetzt, daß der Hengst schon von selbst den bisherigen Pfad verlassen hatte und geradewegs auf das Blitzen von Silber im hohen Gras zustrebte. Offensichtlich war er durstig.

Der See war nicht besonders groß. Er lag in einer natürlichen, kreisrunden Senke, wie Wasser, das sich am Grunde eines erloschenen Vulkans angesammelt hatte. Aber es war kein Vulkankrater - im Gegenteil. Kim hatte niemals etwas Prachtvolleres gesehen. So weit er auch blickte, war das Seeufer von wunderbaren Blumen in allen nur vorstellbaren Farben und Formen gesäumt. Da gab es Rosen, Hyazinthen, Narzissen, Nelken, Tulpen und hundert andere Arten, deren Namen Kim nicht wußte und die er noch nie zuvor im Leben gesehen hatte, in Farben, als wäre ein Regenbogen vom Himmel gestürzt und hier erstarrt. Sie wuchsen in dichten Kreisen um den See herum, einige so nahe am Wasser, als beugten sie sich vor, um zu trinken. Kim brauchte eine ganze Weile, bis er eine Stelle fand, an der er Sternenstaub ans Wasser heranführen konnte, ohne die herrlichen Blüten dabei niederzutrampeln.

Während Sternenstaubs Kopf sich durstig zum Wasser senkte, kletterte Kim steifbeinig von seinem Rücken. Er konnte sich kaum bewegen. Erst jetzt spürte er allmählich, daß er viele Stunden ununterbrochen im Sattel gesessen haben mußte.

Verwirrt sah er sich um. Obwohl er noch immer traurig war, konnte er sich der Schönheit dieses Sees nicht entziehen. Es war, als hätte jemand alle nur vorstellbare Blumenpracht einer ganzen Welt herbeigeschafft, nur um diesen See zu schmücken. Das einzig Sonderbare war, daß nicht eine dieser prachtvollen Blumen duftete. Alles, was Kim roch, war der Morgentau und das Gras, durch das sie geritten waren. Er wartete, bis das Pferd genug hatte und sich davonmachte, um nun einige Schritte abseits am frischen Gras seinen Hunger zu stillen. Auch der Hengst trat dabei sehr vorsichtig auf und knickte nicht einen Blumenstengel, während er sich seinen Weg durch das Blütenmeer bahnte.