Ein lautstarkes Schlürfen und Schmatzen ließ Kim den Blick senken. Direkt zwischen seinen Füßen hockte ein buntes Federbündel und gab sich redliche Mühe, den ganzen See leerzutrinken. Kim geduldete sich, bis auch Bröckchen endlich seinen Durst gelöscht hatte, dann ließ er sich auf die Knie nieder und trank endlich selbst. Das Wasser war eiskalt- und es schmeckte köstlicher als alles, was er zuvor getrunken hatte.
Seltsam.
Es dauerte einen Moment, bis Kim begriffen hatte, was er sah. Es war sein vertrautes Spiegelbild, das er mit den Lippen zu berühren schien, während er trank. Natürlich, es war sein Gesicht. Und doch wieder nicht. Etwas daran war...
Nein - er konnte es nicht in Worte fassen. Es schien, daß an diesem sonderbar verwandelten Spiegelbild nichts Böses oder Gefährliches war; ganz im Gegenteil. Kim mußte sich beherrschen, um nicht unentwegt hinzusehen. So verrückt es ihm vorkam - sein Gesicht war so schön, daß er den Blick nicht abwenden konnte.
Mit Macht riß er sich davon los und ließ sich mit untergeschlagenen Beinen am Ufer nieder. Plötzlich spürte Kim wieder, wie müde er war. Sein Rücken schmerzte, und seine Glieder schienen Zentner zu wiegen. Wie gerne hätte er sich in dem Teppich aus Blumen ausgestreckt und die Augen geschlossen, um zu schlafen.
Aber das durfte er nicht. Eigentlich hätte er nicht einmal diese Rast einlegen dürfen, das wurde ihm plötzlich schmerzhaft bewußt. Ganz ohne Zweifel suchten Jarrn und sein eiserner Gefährte bereits wieder nach ihm - und wenn Kim daran dachte, wie rasch sie ihn in Kelhims Höhle aufgespürt hatten, dann war wohl Brokk gar nicht so langsam, wie er gedacht hatte.
Nicht zum erstenmal, seit sie den Wald verlassen hatten, fragte sich Kim, warum er Jarrn bei der Höhle zurückgelassen hatte, statt ihn, wie schon einmal, kurzerhand mitzunehmen. Kim war sicher, daß er recht bald alles aus dem Zwerg herausbekommen hätte, was er wissen wollte. Jarrn hatte zwar eine verdammt große Klappe, aber er war auch ein verdammt großer Feigling. Kelhim hatte versucht, Kim etwas zu sagen, etwas ungemein Wichtiges. Kim hatte nicht viel davon verstanden, aber so viel war klargeworden: Der Bär hatte etwas von Zwergen gesagt. Und trotzdem war Kim danach einfach aufgestanden und war an dem zu einem Bündel verschnürten Gnom vorbei aus der Höhle gegangen. Kelhims Tod hatte ihn Jarrn schlechterdings vergessen lassen ...
»Bist du hungrig?« unterbrach Bröckchen plötzlich seine Gedanken.
Kim schüttelte den Kopf, ohne hinzusehen.
Bröckchen kam nähergetrippelt und stieß Kim mit seiner weichen Schnauze an. Fast gegen seinen Willen mußte Kim lächeln. Er hob die Hand und streichelte die samtweichen Flaumfedern des Tierchens.
»Soll ich dir etwas fangen?« fragte Bröckchen besorgt. »Einen Fisch? Oder ein paar Wildschweine?«
»Ich bin nicht hungrig«, sagte Kim. »Danke.«
»Schon gut, ich weiß, du bist ein schwacher Esser«, beharrte Bröckchen. »Aber trotzdem - vielleicht nur ein Wildschwein?«
Kim fuhr zusammen, und in Bröckchens Augen trat ein schuldbewußter Ausdruck. »Entschuldige«, piepste es. »Ich wollte dich nicht ...« Es zögerte einen Moment, trippelte wieder zum Wasser und betrachtete nun seinerseits angelegentlich sein Spiegelbild. Kims Blick ging in dieselbe Richtung. Merkwürdig - das Gesicht, das ihm aus dem Wasser entgegenblickte, schien ganz sacht zu lächeln, obwohl Kim wußte, daß er ganz ernst dreinsah.
»Du trauerst sehr um deinen Freund, nicht wahr?« meinte Bröckchen leise.
Kim nickte. »Es war meine Schuld«, sagte er ernst.
»Deine Schuld? Quatsch! Der Eisenmann hat ihn erschlagen - nicht du.«
»Aber es war meine Schuld, daß Brokk dorthin gekommen ist. Ich habe ihn zur Höhle geführt. Und Kelhim hat ihn angegriffen, um mich zu schützen, verstehst du?«
»Nein«, gestand Bröckchen. »Er war doch ein wildes Tier.«
»Das war er nicht«, widersprach Kim heftig. »Etwas ... hat ihn erst dazu gemacht. Er war nicht immer so.«
»Du meinst, er war früher nicht so böse?«
Kim spürte, wie ihm schon wieder die Tränen in die Augen stiegen, aber diesmal kämpfte er sie nieder.
»Ich war schon einmal hier, in Märchenmond, weißt du«, erzählte er. »Damals war Kelhim ... er war ...« Kim suchte einen Moment nach Worten. »Ein Freund«, schloß er schließlich.
»Der Bär?« fragte Bröckchen zweifelnd.
»Damals war alles anders«, murmelte Kim. »Alles hier. Dieses ganze Land. Es war ...«
»Ja?« ermunterte ihn Bröckchen, als Kim nicht weitersprach.
Kim zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Anders eben.«
»Es ist doch nicht schlimm, daß sich etwas verändert.«
»Ich weiß. Aber das meine ich nicht.« Kim mußte plötzlich wieder an Brobings Worte denken: Es ist, als würden wir etwas verlieren. Und wir wissen nicht einmal, was es ist.
»Dies war einmal ein glückliches Land«, sagte er. »Mit fröhlichen Menschen, vielen Tieren, die sprachen, und Wäldern voller Blumen und Fabelwesen.«
»Ich spreche doch auch«, erinnerte ihn Bröckchen.
»Stimmt.« Kim zuckte mit den Schultern. Sein Spiegelbild lächelte ihm immer noch zu, und es fiel ihm auf, wie sehr sich sein Gesicht in den letzten Tagen verändert hatte. Erschöpfung und Müdigkeit hatten ihre Spuren in seinem Antlitz hinterlassen. Und doch sah er nicht schlecht aus - im Gegenteil. Er sah erwachsener dadurch aus, fand Kim. Es fiel ihm jetzt immer schwerer, sich von seinem eigenen Anblick im Wasser loszureißen. Bröckchen schien es ebenso zu ergehen, denn während sie miteinander sprachen, blickten sie stets bloß das Spiegelbild des anderen an.
Plötzlich hörte Kim Schritte hinter sich, und noch bevor er sich herumdrehen konnte, sagte eine Stimme: »Ich an eurer Stelle würde nicht so lange in den See blicken. Es könnte euch schlecht bekommen.«
Kim fuhr hastig herum. Der Klang der Stimme hatte ihm zwar gleich verraten, daß es nicht Jarrn war, der da aufgetaucht war. Trotzdem war Kim vorsichtig.
Hinter ihnen stand ein Fremder. Er war sehr groß, sehr kräftig - und irgendwie knorrig. Kim fand keine andere Bezeichnung dafür. Seine Haut war dunkel - viel dunkler als die von Kim - und glich eher einer Baumrinde, dazu passend trug er eine Kappe aus geflochtenen Blättern auf dem Kopf. Seine Kleidung war grün und bestand ebenfalls aus Blättern, die so kunstvoll verarbeitet waren, daß sie wie gewachsen aussahen. So groß und rissig sein Gesicht auch aussah, das Lächeln, das in seinen Augen stand, wirkte echt und warm.
»Ihr solltet auf mich hören«, sagte der Mann, nachdem er Kim eine Weile Gelegenheit gegeben hatte, ihn zu begutachten. »Seht nicht zu lange hinein. Es tut nicht gut.«
»Wieso«, platzte Kim heraus.
Der Fremde lachte; ein angenehmer, warmer Laut, der Kim sofort für ihn einnahm. Jemand, der so lachte, konnte nicht gefährlich sein. »Du bist nicht von hier, wie?« fragte er. Kim schüttelte den Kopf, und der sonderbare Mann fuhr mit einer erklärenden Geste auf das Wasser fort: »Das ist kein harmloser See.«
Kim erschrak.
»Wir haben daraus getrunken!« kreischte Bröckchen aufgeregt, aber der Unbekannte machte sofort eine besänftigende Geste.
»Das macht nichts«, sagte er. »Das ist völlig ungefährlich. Ihr könnt sogar darin baden, wenn ihr wollt. Hauptsache, ihr schaut nicht zu lange hinein.«
»Aber wieso denn?« fragte Kim noch einmal.
»Geht erst ein paar Schritte fort vom Wasser«, sagte der Mann. »Dann erkläre ich es euch - bevor ich euch pflücken und zu Hause in die Vase stellen kann.«
Nun verstand Kim überhaupt nichts mehr. Aber er spürte, daß die Worte des Fremden wohlwollend und sehr ernst gemeint waren. Sie folgten ihm rasch, bis sie den Kreis aus Blumen durchschritten hatten.