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»Du mußt von weit her kommen, wenn du noch nie vom See der Eitelkeit gehört hast«, sagte der Fremde.

»Der See der Eitelkeit?«

Der Mann deutete auf das Wasser. »Er ist verzaubert«, sagte er. »Sein Wasser heilt Wunden und gibt verlorene Kräfte zurück. Doch es ist auch gefährlich, denn es zeigt den, der hineinblickt, nicht so, wie er wirklich aussieht, sondern so, wie er gerne aussehen möchte. Verstehst du, was ich meine?«

Kim dachte daran, wie sehr ihm sein eigenes Spiegelbild gefallen hatte. Zögernd nickte er.

»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr der knorrige Fremde fort. »Blickt man zu lange hinein, dann kann man sich nicht mehr von seinem Spiegelbild lösen und wird schließlich in eine Blume verwandelt. Siehst du sie dort?«

Kim blickte schaudernd auf das bunte Blumenmeer, das den See umgab. »Sind das alles ...«, begann er.

Der Mann nickte. »Wer seid ihr beiden?« erkundigte er sich dann.

Kim hatte ein bißchen Mühe, dem plötzlichen Gedankensprung zu folgen. Zögernd sagte er: »Mein Name ist... Kim. Ich komme wirklich von weit her. Das da ist Bröckchen. Ein ... Freund.«

»Bröckchen? Ein seltsamer Name.«

»Den hat er mir gegeben«, rief Bröckchen. »Willst du wissen, warum?«

»Ich glaube nicht, daß das wichtig ist«, sagte Kim hastig. Mit veränderter Stimme fügte er hinzu: »Ich danke Euch für die Warnung. Aber wir müssen jetzt weiter.«

»He, he, nicht so schnell«, sagte der Blättermann und streckte die Hand aus. Kim bemerkte mit einer Mischung aus Erschrecken und Staunen, daß seine Haut wahrhaftig aus Holz bestand. Die Fingernägel waren kleine Stückchen aus dunklerer Baumrinde. Und seine Kappe war gar keine Kappe. Die Blätter wuchsen tatsächlich aus seinem Kopf! »Ich habe euch schon eine ganze Weile beobachtet. Ihr scheint ziemlich erschöpft. Vielleicht wollt ihr euch ein bißchen ausruhen. Ihr könnt mit mir kommen. Ich wohne ganz in der Nähe.«

»Das geht nicht«, antwortete Kim - eine Spur zu hastig, wie es schien, denn zwischen den Baumrinden-Augenbrauen des Fremden erschien verwundert eine steile Falte. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns«, fügte Kim mit einem verlegenen Lächeln hinzu. »Einen ziemlich weiten Weg sogar.«

»Wohin wollt ihr?«

»Nach Gorywynn«, antwortete Kim nach einigem Zögern. »Gorywynn, die Gläserne?« entfuhr es dem Mann.

»Ihr kennt sie?«

»Nun - ich war niemals dort, wenn du das meinst, mein Junge. Niemand von uns war je dort. Aber natürlich haben wir davon gehört. Wenn ihr wirklich dorthin wollt, ist es um so besser, wenn ihr mit mir kommt.«

»Wie meint Ihr das?« erkundigte sich Kim, der mittlerweile doch ein bißchen Mißtrauen verspürte.

»Wie du sagst, habt ihr einen weiten Weg vor euch«, antwortete der Blättermann. Er deutete auf Sternenstaub. »Auch mit dem Pferd wirst du Wochen brauchen, ehe du die gläserne Burg erreichst; vielleicht sogar Monate. Besser, du sammelst ein wenig Kraft, ehe du weiterreitest.«

Kim blickte unschlüssig.

»Was ist?« drängte der andere. »Traust du mir nicht?«

»Doch, doch«, meinte Kim hastig.

»Ihr seid auf der Flucht, nicht wahr?«, sagte der Fremde plötzlich.

»Woher wißt Ihr das?« entfuhr es Kim - und sofort hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen.

Aber der andere lachte nur. »O Kim, hältst du mich denn für blind?« fragte er. »Ich sagte, ich habe euch beobachtet, dich und deinen kleinen hübschen Freund da. Wer ist hinter euch her? Trolle?«

Kim hatte bisher nicht einmal gewußt, daß es hier so etwas wie Trolle gab. Er schüttelte den Kopf. »Ein Zwerg«, sagte er.

»Ein Zwerg aus den östlichen Bergen?« Das dunkle Gesicht verdüsterte sich. »Wenn es so ist, gibt es einen Grund mehr für euch, eine Weile bei uns zu bleiben. Kein Zwerg hat es jemals gewagt, zu uns auf den Baum zu kommen. Und kein Zwerg wird es jemals wagen.«

»Wie meint Ihr das?«

»Wir sind nicht unbedingt ... Freunde«, erklärte der Mann. »Die Zwerge sind Geschöpfe der Nacht. Sie leben unter der Erde und hassen die Sonne, und sie hassen alles, was wächst und gedeiht. Auch fürchten sie die Höhe wie die Pest. Und unser Baum ist sehr hoch.«

Unser Baum? Kim verstand nur ungefähr die Hälfte von dem, was der Blättermann da sagte. Aber irgendwie vertraute er ihm. Die Düsternis, die er in seinen Augen gesehen hatte, als Kim den Zwerg erwähnte, war echt.

»Wir feiern heute abend ein Fest. Ihr seid herzlich eingeladen«, sagte der Mann, als Kim immer noch zögerte. »Mir ist nicht nach Feiern zumute«, erwiderte Kim traurig. »Er hat gerade einen guten Freund verloren«, ergänzte Bröckchen leise.

Der andere nickte mitfühlend. »Das tut weh«, sagte er. »Aber vielleicht lenkt es dich ein wenig ab. Und wenn nicht, dann haben wir immer noch ein Bett für dich, in dem du dich richtig ausschlafen kannst. Nun komm schon.«

Und nach einem letzten, kurzen Zögern willigte Kim ein. Oak, unter welchem Namen sich ihr neuer Freund vorstellte, erbot sich, Sternenstaub an einen sicheren Ort zu bringen, wo der Hengst bis zu ihrer Rückkehr warten konnte und auch gut versorgt war. Denn der See der Eitelkeit war auch für Pferde gefährlich. Leider, so fuhr Oak fort, war es für Sternenstaub nicht möglich, seinen Baum zu betreten. Kim stimmte zu, und Oak nahm den Hengst am Zügel und führte ihn fort. Sternenstaub folgte dem Mann gehorsam; ein weiteres Zeichen für Kim, daß sie dem Blättermann trauen konnten. Denn auf den Zwerg etwa hatte das Tier ebenso gereizt reagiert wie Kim oder Bröckchen.

Sie mußten nicht lange warten. Oak kehrte schon nach wenigen Augenblicken zurück und erklärte, daß er sie jetzt zu dem Baum bringen würde. Kims Neugier war mittlerweile wirklich geweckt - zumal er weit und breit keinen Baum sah. Büsche und Sträucher und prachtvolle Wildblumen, so weit das Auge blickte - aber nirgends etwas, das einem Baum auch nur ähnelte, obgleich Oak unentwegt davon redete.

Als Kim das sagte, lächelte Oak nur vielsagend und machte eine Handbewegung, ihm zu folgen. Bröckchen sprang mit einem Satz auf Kims Schulter, und so marschierten sie hinter Oak her durch das hüfthohe Gras. Auch in jener Richtung, in die Oak sie führte, konnte Kim beim besten Willen keinen Baum entdecken. Währenddessen gingen sie schnurstracks auf die Felswand zu, die Kim am frühen Morgen gesehen hatte.

Nach einer Weile erkannte Kim, daß die Wand längst nicht so eben war, wie es von weitem den Anschein gehabt hatte. Der Fels war überall geborsten und gerissen und von großen, anscheinend tief in den Berg hineinreichenden Höhlen durchzogen, deren Öffnungen wie schwarze Augen auf die Ankömmlinge zu starren schienen. Als sie noch näher kamen, sah Kim die Stufen einer gewaltigen Treppe, die in den Fels hineingeschlagen worden war und in schwindelerregenden Windungen und Kehren in die Höhe führte.

Und als sie schließlich dicht heran waren, da begriff er, daß der Berg gar kein Berg war; sowenig, wie die Stufen der Treppe in ihn hineingemeißelt worden waren. Vielmehr hatte man sie geschnitzt. Denn der Berg bestand nicht aus Stein, sondern aus Holz. Und es war kein Berg - es war ein Baum. Die Erkenntnis traf Kim so plötzlich, daß er wie erstarrt stehenblieb und fassungslos den Kopf in den Nacken legte. Erneut fiel ihm das sonderbar grüngefärbte Licht auf, und erst jetzt sah er, warum das so war: Auch der Himmel über ihnen war nicht das, wofür Kim ihn gehalten hatte. So weit das Auge reichte, spannte sich ein gewaltiges Blätterdach über ihren Köpfen, als wäre das gesamte Firmament mit Blättern und gewaltigen Ästen zugewachsen. Und als stünden sie am Grunde eines gewaltigen Waldes, der die ganze Welt umspannte; hell genug zwar, aber ohne Ausblick auf den Himmel. Nur daß das lebende grüne Dach über ihren Köpfen nicht aus den Wipfeln eines Waldes bestand, sondern aus der Krone eines einzigen, unendlich großen Baumes!

»Was hast du?« erkundigte sich Oak in beiläufigem Ton, konnte aber ein belustigtes Blinzeln nicht ganz aus seinen Augen verbannen. Offenbar wußte er ganz genau um die Wirkung, die dieser Anblick beim erstenmal hervorrief, und hatte sich wahrscheinlich einen Spaß daraus gemacht, Kim bisher im unklaren zu lassen.