»Ist das ... dein Baum?« krächzte Kim.
Oak nickte, und schüttelte in der gleichen Bewegung auch den Kopf. »Es ist nicht mein Baum«, sagte er mit Nachdruck. »Aber es ist der Baum, wenn du das meinst. Kennst du noch einen anderen?«
»Natürlich«, antwortete Kim verdattert. »Es gibt doch überall Bäume ... wenn auch nicht solche.«
»Ach die.« Oak grinste plötzlich wie ein Schuljunge, dem ein Streich gelungen war. »Die sind keine Bäume. Sie wollen vielleicht mal welche werden, aber da brauchen sie noch eine Menge Zeit.« Er lachte laut auf. »Entschuldige, wenn ich dich auf den Arm genommen habe. Aber ja, du hast recht - das ist der Baum. Und es gibt wirklich nur diesen einen.«
»Das glaube ich gerne«, flüsterte Kim. Es war ihm unmöglich, den Blick von dem mächtigen Stamm loszureißen. Oaks Worte und sein Verstand sagten ihm, daß es sich tatsächlich um einen Baum handelte, aber seine Augen behaupteten noch immer, daß es ein Berg war - der Durchmesser des Stammes war ungeheuer, und an seine vermutliche Höhe wagte Kim gar nicht erst zu denken, aus Angst, daß ihm schwindelig wurde. Doch schon winkte Oak ungeduldig mit der Hand, ihm zu folgen. Und tatsächlich ließ das Schwindelgefühl nicht lange auf sich warten, als Kim hinter seinem Führer die gewaltige Holztreppe hinaufstieg, die sich am Stamm des Riesenbaumes in die Höhe wand, zwar bequem und breit, aber sehr, sehr steil; und ohne die Spur eines Geländers. Tapfer hielt Kim den Blick auf den Rücken Oaks geheftet und hoffte, daß niemand sonst seine Angst bemerkte.
Er hörte auf, die Stufen zu zählen, als er bei vierhundert angelangt und der unterste der unglaublich dicken Äste noch nicht sichtbar näher gekommen war. Gut eine halbe Stunde lang stiegen sie in scharfem Tempo die Windungen und Kehren hinauf, ehe sie die Stelle erreichten, an der sich der Stamm des Baumes zum ersten Ast verzweigte - oder das, was Oak vermutlich als Ast bezeichnete. Für Kim war es eher eine Straße aus gewachsenem Holz, so lang, daß er ihr Ende auch nicht hätte sehen können, wenn es nicht im grünen Blätterdschungel verschwunden wäre.
Dafür sah Kim etwas anderes - weit entfernt erhoben sich aus dem Ast die Schemen kleiner weißer und grüner Häuser. Kim starrte die kleinen Farbtupfer aus hervorquellenden Augen an. Kein Zweifel - auf diesem gewaltigen Baum war wahrhaftig eine Stadt erbaut worden!
»Du staunst?« fragte Oak, dem Kims reichlich belämmerter Gesichtsausdruck nicht entgangen war.
»Das ... das ... das sind Häuser!« ächzte Kim.
»Natürlich sind das Häuser«, meinte Oak. »Wohnt ihr da, wo du herkommst, nicht in Häusern?«
»Doch«, gab Kim verwirrt zurück. »Aber ich dachte ... ich meine, ich habe geglaubt...«
Oak grinste. »Nun, ich zeige dir gern die Stadt, wenn du willst. Und die anderen Städte auch.«
»Andere?« Kim war fassungslos. »Das heißt, es ... es gibt noch mehr?«
»Sieben oder acht«, antwortete Oak beiläufig, »die Weiler nicht mitgerechnet, oben im Wipfel.«
»Ah ja«, sagte Kim tapfer. Er kam aus dem Staunen nicht heraus. Ein Baum, so groß wie ein ganzes Land, und Städte auf seinen Ästen!
Und doch war es so. Je näher sie kamen, desto mehr sah Kim von der Baumstadt - und es war wahrhaftig eine Stadt. Manche der Häuser hatten fünf oder sechs Stockwerke, und eines war so groß, wie unten auf der Erde eine Burg. Die Leute hier schienen grüne und rote und gelbe Kleider zu tragen, aber es waren keine Kleider, sondern eine natürlich gewachsene Blätterhaut. Sie gingen auf richtigen Straßen, die, eingekerbt in die Rinde des Astes, von zahllosen Füßen in Jahrtausenden glattpoliert worden waren, so daß sie wie glänzender Asphalt aussahen. Hier und da lugten zwischen den Gebäuden Gewächse hervor, die Kim bei näherem Hinsehen als kleinere Seitentriebe des riesigen Astes erkannte, die aber so groß wie sonst ausgewachsene Bäume waren. Oak hätte das natürlich abgestritten - aber für Kim blieben es Bäume. Ziemlich stattliche sogar. »Das ist unglaublich«, stöhnte Kim, während er Oak durch die breiten Straßen der Baumstadt folgte und unentwegt neue Wunder entdeckte. »Und ihr ... ihr lebt wirklich hier oben? Ihr geht niemals nach unten?«
»Oh, dann und wann schon«, antwortete Oak mit sanftem Spott. »Wäre es nicht so, hätte ich dich schwerlich am See treffen können, nicht wahr? Aber du hast natürlich recht - wir leben hier und verlassen den Baum nur selten. Er ist unsere Heimat.«
Er deutete auf ein kleines, aber sehr schmuckes Häuschen zur Rechten. »Wir sind da. Meine Frau ist nicht zu Hause - sie hilft bei den Vorbereitungen für das Fest heute abend. Aber sie wird sich freuen, euch zu sehen. Wir haben gerne Gäste.«
Er bückte sich unter dem Eingang hindurch, der ein wenig zu niedrig für ihn war, und machte eine einladende Geste. »Tretet nur ein.«
Kim zögerte - aber nicht aus Angst, sondern weil ihn dieses Gebäude ebensosehr verblüffte wie alles andere hier. Es stand nicht, wie es zuerst ausgesehen hatte, auf dem gewaltigen Ast, es war organischer Teil des Baumes. Seine Wände wuchsen direkt aus dem Boden heraus, und das Dach bestand aus lebendem, grünem Blattwerk. Türen und Fenster schienen nicht ins Holz hineingeschnitten worden zu sein, sondern waren von dicken Wülsten umrandete, halbrunde Öffnungen, wo das Holz einfach aufgehört hatte, zu wachsen.
Und so wie das Äußere war auch das Innere des Hauses. Es gab Möbel wie in jedem Haus, das Kim kannte - Tische, Stühle, Schränke und Betten. Aber sie waren nicht einfach hingestellt worden, sondern schienen aus Boden und Wänden herauszuwachsen. Als hätte sich der Baum angestrengt, seinen Bewohnern ein möglichst bequemes Heim zu bieten. Es gab sogar einen Herd: ein quadratischer Holzblock, dessen schwarze Oberfläche hart wie Stein war und dem das Feuer offensichtlich nichts auszumachen schien.
Oak gab seinen Besuchern Zeit, sich umzusehen, während er bereits eine Mahlzeit vorbereitete: einen grünen, süß riechenden Brei, über den er Krauter und getrocknete Gewürzblätter streute, und dazu etwas, das wie Honig duftete, aber dünnflüssiger war. Für Bröckchen stellte er eine kleine Schale auf den Tisch, und als er die Speise auftrug, staunte er nicht schlecht, als der Federwusel im Nu seine eigene wie auch die für Kim gedachte Portion vertilgt hatte und Oak dann mit hungrigen Augen ansah. Erst nachdem Bröckchen einen geradezu gewaltigen Nachschlag bekommen hatte, füllte der freundliche Blättermann auch Kims Teller wieder auf.
»Ihr seid also auf der Flucht vor einem Zwerg«, begann Oak, nachdem Kim zu Ende gegessen hatte und Bröckchen mit seinem dritten Nachschlag beschäftigt war.
Kim zögerte mit der Antwort. Es war keineswegs so, daß er Oak gegenüber noch Mißtrauen empfand - aber er mußte plötzlich wieder an seinen Freund denken. Er konnte es drehen, wie er wollte: Er fühlte sich schuldig, weil er Kelhim gezwungen hatte, sich in seinen Streit mit Jarrn zu mischen und Kelhim daran gestorben war.
»Ja«, sagte er. »Er hat einen ... Freund von mir getötet.«
»Getötet?« Oak sah auf, aber es war nicht gewiß, ob sein Stirnrunzeln dem Wort getötet, oder Kims unmerklichen Zögern vor dem Wort Freund galt.
»Nicht eigenhändig«, schränkte Kim ein. »Jemand, der... bei ihm war.«
Oak sah ihn eine ganze Weile durchdringend an. »Du willst nicht darüber sprechen«, stellte er fest.
»Nein.« Kim schüttelte den Kopf.
»Gut«, sagte Oak. »Wir kümmern uns hier nicht allzusehr um die Angelegenheiten der Leute da unten. Aber falls du doch noch darüber reden willst, bin ich immer für dich da. Wenn nicht, dann eben nicht.« Höflich wechselte er das Thema. »Übrigens gibt es ein Rennen heute abend. Willst du nicht mitmachen? Du siehst aus, als wärst du ein guter Läufer - wenn du ein paar Stunden geschlafen hast, heißt das.«