Als wären seine Worte ein Auslöser gewesen, konnte sich Kim plötzlich eines Gähnens nicht mehr erwehren. Oak lächelte, stand auf und ging ins Nebenzimmer, und auf ein Winken hin folgte ihm Kim.
»Schlaf ein paar Stunden«, sagte Oak. Er deutete auf ein niedriges, mit Blättern und lebendem Laub gedecktes Lager, das neben der Tür aus dem Boden wuchs. »Du wirst mit meinem Bett vorliebnehmen müssen«, sagte er in einem Tonfall, der fast nach einer Entschuldigung klang. »Ich baue gerade ein neues Haus, weißt du. Dort werde ich auch ein Gästezimmer haben. Aber es ist noch nicht fertig.«
Kim hörte gar nicht mehr richtig zu. Der bloße Anblick des Bettes ließ seine Augenlider plötzlich schwer wie Blei werden. Ohne ein weiteres Wort ließ er sich auf das Bett sinken und schlief mitten in dem Gedanken ein, wie sonderbar es doch war, in einem Bett zu liegen, dessen Decke von selbst über seinen Körper kroch, um ihn zu wärmen ... Er erwachte mit einem Schrei.
Kims Herz raste. Er war am ganzen Leib in Schweiß gebadet, und er hatte sich so abrupt aufgesetzt, daß ein paar der dünnen Zweige, die ihn zudeckten, glattweg abgerissen waren. Die zerrissenen Enden zogen sich hastig zurück, und die ganze Decke begann sich zu bewegen und glitt dann raschelnd von ihm herunter.
Mit klopfendem Herzen sah sich Kim um. Er war allein. Das Licht im Zimmer hatte sich irgendwie ... geändert, ohne daß er sagen konnte, wie. Niemand war hier außer Bröckchen, das erschrocken hochgefahren war und Kim verdattert anblickte. Und doch war er sicher, für einen Moment eine riesige, kantige Gestalt gesehen zu haben, die ihn aus einem unheimlichen, grünleuchtenden Auge anstarrte.
Die Ereignisse der vergangenen Nacht verfolgten ihn wohl noch immer. Natürlich, das war die Erklärung. Er war eingeschlafen und hatte phantasiert. Doch jetzt hörte er wieder etwas - rasche, schwere Schritte, die sich der Tür näherten, bis kurz darauf Oaks knorrige Gestalt darin erschien. »Ist etwas geschehen?« fragte er erschrocken. »Du hast geschrien!«
Kim schüttelte den Kopf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn, um den Schweiß abzuwischen. »Ich ... hatte schlecht geschlafen«, sagte er. »Es ist schon gut.« Ein wenig verlegen fügte er hinzu: »Ich glaube, ich habe etwas kaputtgemacht. Ein paar Zweige -«
Oak winkte ab. »Das macht nichts. Ich sagte dir doch - wir ziehen bald um. Es kommt nicht mehr darauf an.« Er legte den Kopf schräg und musterte Kim besorgt. »Bist du ausgeschlafen?«
Ausgeschlafen? Nein, das war Kim keineswegs, aber er schauderte bei dem bloßen Gedanken, noch einmal die Augen schließen und womöglich die Fortsetzung jenes Alptraums zu erleben, aus dem er gerade erwacht war.
»Meine Frau ist zurück und hat das Abendessen gerichtet«, sagte Oak. »Danach beginnt das Fest.«
Kim sagte nichts darauf, aber er stand auf. Sein Magen knurrte schon wieder. Und auch Bröckchen schnüffelte begierig, während sie beide hinter Oak in die Stube traten. Am Herd stand jetzt Oaks Frau. Ihr Blätterkleid war etwas heller als das ihres Mannes, aber sie hatte das gleiche knorrige Gesicht und bis auf die Schultern fallendes, geringeltes Blätterhaar. Oak schien ihr von den beiden Besuchern erzählt zu haben, denn sie lächelte ihnen wissend und freundlich zu. Dann deutete sie auf den Tisch, auf dem bereits drei Teller mit dem süßen, grünen Brei bereitstanden - und ein großer Trog, in den sich Bröckchen mit einem erfreuten Pfiff kurzerhand hineinstürzte, um ihn in atemberaubender Geschwindigkeit leerzufressen. Oak lächelte amüsiert, während die Augen seiner Frau vor Staunen groß wurden. Nachdem sie fertiggegessen hatten, stopfte sich Oak eine Pfeife und plauderte mit Kim. Auch seine Frau setzte sich dazu. Es dauerte eine ganze Zeit, bis Kim auffiel, daß sie in dem Gespräch alles vermieden, was ihren Gast irgendwie in Verlegenheit bringen könnte. Es schien wirklich so zu sein, wie Oak gesagt hatte - die Baumleute interessierten sich nicht sonderlich für das, was außerhalb ihrer Blätterwelt geschah.
Endlich stand Oak auf, reckte sich, daß seine Arme knarrten wie Holz - und sie waren ja aus Holz - und deutete auf die Tür. »Es wird Zeit«, sagte er. »Wir müssen los, wenn wir den Beginn des Festes nicht verpassen wollen. Es wäre schön, wenn ihr mitkommen wolltet.«
Kim lehnte mit einem Kopfschütteln ab. Er war dankbar für das Angebot, aber ihm war wirklich nicht zum Feiern zumute. Es wäre ihm schäbig vorgekommen, sich in eine fröhliche Runde einzureihen, nach allem, was mit Kelhim passiert war.
»Nein«, sagte er. »Ich danke Euch, aber -«
Und dann brach er mitten im Satz ab und starrte aus entsetzt aufgerissenen Augen durch die offene Haustür nach draußen.
Auf der Straße vor dem Haus sah er eine Menge von Baumleuten in verschiedenen Farben - aber das war nicht alles. Zwischen ihnen stampfte eine hünenhafte, kantige Gestalt einher. Eine Gestalt aus rotbraunem Eisen, mit einem einzigen grünleuchtenden Auge!
»Was hast du?« fragte Oak alarmiert.
»Brokk«, flüsterte Kim. Er begann am ganzen Leib zu zittern. »Das ... das ist Brokk! Er ist hier!«
Oaks Blick folgte dem Kims, und in seinen Augen stand ein Ausdruck tiefer Verwirrung, als er sich wieder zu ihm umwandte. »Aber das ist doch nur ein Eisenmann!«
»Ich hätte nicht hierherkommen sollen«, stammelte Kim. »Er wird Euch auch -« Und erst dann begriff er eigentlich, was Oak gerade gesagt hatte. Fassungslos starrte er ihn an. »Soll das heißen, es gibt noch mehrere hier?«
»Eisenmänner?« Oak lachte unsicher. »Aber natürlich, Dutzende. Sie helfen uns, die neue Stadt zu bauen, in der wir bald wohnen werden. Ohne sie würden wir die Arbeit gar nicht schaffen!«
Kims Blick blieb wie hypnotisiert auf den Eisenmann gerichtet, der sich mit schweren, stampfenden Schritten zwischen den Baumleuten bewegte. Nur am Rande nahm er wahr, wie die gewaltigen Eisenfüße dabei kleine Splitter aus dem Holz des Astes rissen.
»Sie sind sogar hier?« ächzte er. »Aber ... wißt Ihr denn nicht, woher sie kommen?«
Oaks Verwirrung nahm sichtlich zu. »Selbstverständlich«, antwortete er. »Die Zwerge schmieden sie in ihren Höhlen.«
»Aber Ihr habt mir doch gesagt, die ... die Zwerge und Ihr wärt... Feinde.«
»Nicht Feinde«, verbesserte ihn Oak. »Sie sind nicht unsere Freunde - aber das heißt nicht, daß sie unsere Feinde sind. Wir haben keine Feinde, so wie wir niemandes Feind sind.«
Er stand auf, ging zur Tür und schloß sie, wie um Kim auf diese Weise vom Anblick des Eisenmannes zu befreien. »Was ist daran so schlimm?« fragte er, als er zurückkam.
Kim antwortete nicht, aber Bröckchen sagte leise: »Es war ein Eisenmann, der seinen Freund erschlagen hat.« Kim schluckte. Die bloße Erinnerung trieb ihm schon wieder die Tränen in die Augen.
»Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst«, sagte Oak sanft. »Es tut mir leid. Hätte ich davon gewußt, dann hätte ich dafür gesorgt, daß du ihn nicht zu Gesicht bekommst.«
»Ihr müßt sie wegschicken«, flüsterte Kim. »Sie sind gefährlich!«
»Nein«, entgegnete Oak lächernd. »Das sind sie nicht.« Er setzte sich wieder an den Tisch, streckte die Finger aus und berührte Kims Hand. Obwohl seine Haut hart und knorrig wie alte Baumrinde aussah, fühlte sie sich weich und warm an.
»Ich glaube, das weiß ich besser«, murmelte Kim, der noch immer mit den Tränen kämpfte. »Ich war dabei, als er Kelhim erschlug.«
»Sie sind nur Werkzeuge«, antwortete Oak. Er zog ein Messer aus dem Gürtel und legte es vor Kim auf die Tischplatte. »Auch das hier kommt von den Zwergen. Das und alle anderen Werkzeuge, die wir benutzen. Wir können hier kein Eisen schmelzen, sowenig, wie sie in ihren Höhlen die Früchte heranzüchten können, die wir ihnen verkaufen. Wir sind keine Freunde, aber wir handeln miteinander, weil der eine hat, was dem anderen fehlt. Was ist falsch daran?« Er hob die knorrige Hand, als Kim widersprechen wollte, und fuhr mit ganz leicht erhobener Stimme fort: »Auch mit diesem Messer kannst du töten, Kim. Trotzdem fürchtest du es nicht, nur weil es da ist. Die Eisenmänner sind nicht anders als dieses Messer: Werkzeuge. Du brauchst sie nicht zu fürchten. Fürchten muß man nur die, die sie für falsche Ziele nutzen.«