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»Ist was?« fragte Tante Birgit, die Kims Blick gefolgt war. Er sah sie einen Moment lang verwirrt an und schloß dann aus ihrem Blick, daß irgend etwas an seinem Gesichtsausdruck wohl nicht stimmte. »Nein«, sagte er. »Wieso?«

»Du starrst den Polizisten so an.«

Kim zuckte unruhig mit den Schultern und gewann etwas Zeit, indem er ein gewaltiges Stück Käsekuchen in sich hineinstopfte. »Erischallein«, nuschelte er mit vollem Mund. »Was?«

Kim schluckte den Bissen herunter, unterdrückte mit aller Macht ein Husten und trank hastig den Rest seiner Cola. Seine Tante übersah den wehleidigen Blick, den er dem geleerten Glas zuwarf. »Er ist allein«, sagte er dann noch einmal. »Ich dachte, sie würden den Jungen mitnehmen - weil er doch den Unfall verursacht hat.«

Tante Birgit zuckte mit den Achseln. »Sie werden seine Personalien aufgeschrieben haben«, antwortete sie.

»Schließlich hat er kein Schwerverbrechen begangen. Vielleicht haben sie ihn auch im Krankenhaus gelassen - er sah irgendwie nicht gut aus.« Sie brach ab, blickte wieder zum Tor hinüber und fügte dann hinzu: »Da kommen deine Mutter und Becky.« Kim biß ein letztes Stück von seinem Kuchen und wollte aufstehen, aber Tante Birgit winkte ab. »Iß ruhig. Wir haben genug Zeit. Sie haben uns schon gesehen - siehst du?«

Sie hob die Hand und winkte, und auf der anderen Straßenseite winkte Kims Mutter zurück. Sie und Becky schlängelten sich zwischen den auf beiden Fahrspuren dicht an dicht stehenden Autos dem Cafe zu. Und nach wenigen Augenblicken erschienen sie am Tisch.

»Was ist denn da draußen los?« fragte Kims Mutter kopfschüttelnd. »Das sieht ja aus, als wäre der ganze Verkehr zusammengebrochen.«

»Ein Unfall.« Tante Birgit deutete auf den grellgelb gestrichenen Abschleppwagen, der den Krankenwagen mittlerweile an den Haken genommen hatte und versuchte, ihn von der Straße zu ziehen, ohne dabei ein halbes Dutzend anderer Wagen zu demolieren. Kim beobachtete mit fast wissenschaftlichem Interesse, wie der Wagen beinahe zentimeterweise vor- und zurücksetzte, ohne dabei nennenswert von der Stelle zu kommen, während die beiden Polizeibeamten ebenso lautstark wie zwecklos Kommandos an die Autofahrer zu brüllen begannen. Vielleicht sollte man die ganze Straße, so, wie sie jetzt war, zubetonieren, sinnierte Kim, samt der Wagen, die sie blockierten. Wenn der Zement trocken war, konnte man ja eine neue Fahrspur darüber leiten. Wahrscheinlich ging das schneller, als diese hilflosen Versuche, das Chaos wieder aufzulösen.

Er verscheuchte diesen albernen Gedanken und tauschte einen kurzen Blick mit seiner Schwester, die auf einem der gegenüberliegenden Stühle Platz genommen hatte und gierig auf den Rest seines Käsekuchens blickte. Kim zögerte kurz, dann schob er ihr den Teller zu. Er war sowieso satt. »Du mußt das nicht essen, Becky«, sagte Tante Birgit mit einem strafenden Blick in Kims Richtung und schob den Teller wieder zurück. »Ich bestelle dir ein neues Stück.« Sie hob die Hand und winkte die Kellnerin herbei.

»Wir sollten lieber fahren«, wandte Kims Mutter ein. »Fahren?« Tante Birgit lachte leise, aber ohne sonderlich viel Humor. »Bis sich dieser Stau aufgelöst hat, kommst du höchstens mit einem Panzer aus der Parklücke. Setz dich und trink einen Kaffee.«

Kims Mutter überlegte einen Moment, aber ein Blick aus dem Fenster überzeugte sie schließlich davon, daß ihre Schwester wohl recht hatte. Seufzend ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und bestellte einen Cappuccino, als die Kellnerin kam. Und für Rebekka ein Glas Orangensaft und ein Stück Torte.

»Na, wie war's?« wandte sich Tante Birgit an Becky. Daß die regelmäßigen Krankenhausbesuche nicht unbedingt Rebekkas ungeteilte Zustimmung fanden, war kein Geheimnis. Und in den letzten Monaten hatte sich Becky sogar heftig dagegen gewehrt. Die letzten Male hatten Mutter und Tante Birgit sie fast mit Gewalt hierherschleifen müssen. Kim verstand das nicht ganz - er wußte, daß seiner Schwester nicht weh getan wurde. Die Ärzte wollten sich einfach davon überzeugen, daß sie ihr wochenlanges Koma auch tatsächlich gut überstanden hatte. Es war zwar schon eine geraume Weile her, aber die Ärzte wollten Rebekka auf mögliche Spätfolgen hin untersuchen.

»Prima«, antwortete Mutter an Rebekkas Stelle. »Und es war das letzte Mal -jedenfalls für dieses Jahr.«

Nicht nur Kim sah überrascht auf. »Das letzte Mal?« wiederholte Tante Birgit.

»Sie wollen sie erst in sechs Monaten wiedersehen«, bestätigte Kims Mutter. »Der Professor hat sie heute selbst noch einmal untersucht. Er sagt, er wäre sehr zufrieden mit ihrem Gesundheitszustand. Es besteht kein Grund mehr, alle paar Wochen wiederzukommen. Noch zwei, drei Untersuchungen in Abständen von einem halben Jahr, und wir haben es endgültig hinter uns.«

»Aber das ist ja phantastisch!« rief Tante Birgit. »Meinst du nicht auch, Beckyschatz?«

Beckyschatz starrte sie böse an. Kim war nicht ganz sicher, weshalb. Zum Teil lag es wohl daran, daß sie es haßte, so genannt zu werden. Aber da schien noch etwas anderes zu sein. Rebekka war nie besonders redselig gewesen - aber sie hatte noch kein einziges Wort gesprochen, seit sie das Cafe betreten hatte, und überhaupt wirkte sie irgendwie still. Zu still, für Kims Geschmack. Als bedrückte sie etwas. Oder als hätte sie etwas gesehen, was sie zutiefst erschreckt hatte...

»Blödes Krankenhaus«, sagte sie schließlich. »Ich hasse es.«

Tante Birgit blickte sie schockiert an, während Mutter Mühe hatte, ein Lachen zu unterdrücken. Schließlich rang sich auch die Tante zu einem Lächeln durch.

»Na ja, jetzt hast du's ja hinter dir«, meinte sie. »Ein halbes Jahr ist lang, du wirst sehen.«

Rebekka schenkte ihr einen weiteren düsteren Blick und wandte sich dann der Torte zu, die die Kellnerin in diesem Moment brachte. Draußen auf der Straße hatte der Abschleppwagen den verkeilten Krankenwagen endlich losbekommen und war dabei, selbst im Verkehrsgewühl steckenzubleiben. Kim sah, wie eine junge Frau in einem offenen Sportflitzer eine winzige Lücke vor sich erspähte und den Wagen geschickt ein paarmal vor- und zurücksetzte, bis sie nicht mehr von der Stelle kam und gegen die Stoßstange ihres Vordermannes krachte. Der Fahrer des Wagens stieg aus und bekam auf der Stelle einen Tobsuchtsanfall. Kim knabberte lustlos am Rest seines Käsekuchens herum, während er einen berittenen Polizisten entdeckte, der am entgegengesetzten Ende der Straße auftauchte und versuchte, eine Lücke in der Blechlawine zu finden, die breit genug für sein Tier war. Eigentlich war das nichts Besonderes - hier in Düsseldorf sah man dann und wann noch einen Polizeibeamten zu Pferde; manchmal die einzige Möglichkeit, auf den verstopften Straßen überhaupt noch voranzukommen. Trotzdem war an dem Anblick etwas, das Kim in seinen Bann schlug. Wieder hatte er das Gefühl, daß dieses Bild ihm irgend etwas sagen müßte. Und wieder wußte er einfach nicht, was.

»Das kann ja heiter werden«, seufzte Tante Birgit. »Wie sollen wir da jemals rauskommen?«

»Was ist überhaupt geschehen?« erkundigte sich Kims Mutter noch einmal.

»Eigentlich nichts Besonderes«, antwortete Tante Birgit. »Ein Junge ist vor den Krankenwagen gelaufen. Der Fahrer mußte ausweichen und hat das Tor gerammt. Aber es gab nur Blechschaden.«

»Ein Junge?«

Tante Birgit nickte. »Ja. Er hat sich irgendwie komisch benommen, finde ich. So völlig teilnahmslos hinterher, weißt du? Als ob er träumte. Und er hatte so seltsame Sachen an.« Kim verschluckte sich an seinem Kuchen, begann zu husten und besprenkelte Rebekka und seine Tante mit Kuchenkrümeln. Rebekka kreischte und griff unverzüglich nach einem Stückchen Torte, das sie in seine Richtung warf, während Tante Birgit erschrocken zurückprallte. Das Stück Torte verfehlte Kim um Haaresbreite und landete am Kleid einer dicken Frau, die hinter Kim saß und erschrocken hochsprang. Fast hätte sie der vorbeieilenden Kellnerin das volle Tablett aus der Hand gestoßen. Die sprang gerade noch mit einem Schrei beiseite, daß der Kaffee in den Tassen schwappte. Da schnippte Rebekka mit ihrer Gabel ein zweites Stückchen Torte los, das diesmal wirklich mitten im Gesicht ihres Bruders landete.