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Vielleicht hätte Kim die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Nacht sogar völlig vergessen, wäre nicht nach einer Weile ein Wermutstropfen in seine ausgelassene Stimmung gefallen. Kim stand nichts Böses ahnend mit Oak und einigen seiner Freunde zusammen und knabberte an einer gegrillten Frucht, die ganz vorzüglich schmeckte, als ihm plötzlich im wahrsten Sinne des Wortes der Bissen im Halse steckenblieb.

»Was hast du?« fragte Oak besorgt.

Kim antwortete nicht, aber als Oaks Blick dem seinen folgte, begriff er schon: Nicht weit von ihnen entfernt, erhoben sich die kantigen Schultern von gleich acht oder zehn Eisenmännern über die Köpfe der Menge.

»Nun, mach dir keine Sorgen«, sagte Oak in ungeduldigem Tonfall. »Ich habe dir gesagt, sie sind unsere Helfer.«

»Was ... was tun sie hier?« fragte Kim stockend.

»Das frage ich mich auch«, fügte einer der Baumleute - ein noch sehr junger Mann, dessen Blätter eine blaßgelbe Färbung hatten - hinzu.

Oak schenkte ihm einen bösen Blick, sagte aber nichts dazu, sondern wandte sich wieder an Kim. »Sie werden an dem Wettlauf heute Abend teilnehmen.«

»Eisenmänner?« fragte Kim überrascht.

»Das ist lächerlich«, meinte der gelbe Blättermann. »Und es ist eine Beleidigung für uns alle.«

»Ach, sei doch still«, fuhr ihn Oak an.

Und ein anderer, wie Oak im grünen Blätterkleid, bestätigte ihn: »Reg dich nicht auf. Er ist ein Gelber - was erwartest du?«

»Ich jedenfalls helfe nicht mit, unseren Baum zu zerstören«, gab der Gelbe zornig zurück.

Kim folgte dem entbrennenden Streit mit wachsender Verwirrung. Er hätte es gar nicht für möglich gehalten, daß die Baumleute in der Lage waren, sich zu zanken.

»Ich bitte euch!« fiel Oak jetzt beschwörend ein. »Wir wollen ein Fest feiern und nicht streiten. Also halte dich zurück, Tarrn. Und du, Limb -« Er wandte sich an den Gelben. »- Wenn du wirklich so wenig von den Eisenmännern hältst, warum läufst du dann nicht mit und besiegst sie?« Limb schürzte zornig die Lippen. »Ich trete nicht gegen ein ... Ding an, das nicht einmal eine Seele hat.«

Tarrn seufzte tief. »Das ist wieder mal typisch«, sagte er, wobei sich eine Spur von Harne in seine Stimme schlich. »Wenn es nach euch Gelben ginge, müßten wir sogar die Häuser abreißen und wieder nackt auf den Ästen leben, wie unsere Vorfahren, wie?«

»Was war so schlecht daran?« fragte Limb herausfordernd. Er funkelte sein Gegenüber an, dann wandte er sich an Kim. »Sag du es, Junge. Ist es etwa richtig, wenn wir unsere eigene Welt zerstören?«

»Aber das tun wir nicht«, protestierte Tarrn.

»Es ist genug!« Oak warf dem Gelben einen strengen Blick zu. »Ich dulde es nicht, daß meine Gäste in euren albernen Streit hineingezogen werden.«

Limbs Augen funkelten zornig, aber er hielt sich zurück und sagte nichts mehr. Nach einer weiteren Sekunde drehte er sich herum und verschwand mit raschen Schritten im Gedränge.

Tarrn blickte ihm kopfschüttelnd nach. »Gelbe!« sagte er abfällig. »Die reinsten Chaoten.«

»Genug jetzt«, mahnte Oak.

»Pah!« Tarrn blies die Backen auf. »Als ob ein paar Eisenmänner unsere Welt gefährdeten! Was ist schlecht daran, keine Treppen mehr steigen zu müssen und in größeren Häusern zu leben?«

»Ich sagte, es reicht«, wiederholte Oak streng. Dann zwang er sich zu einem Lächeln. »Gehen wir. Sehen wir uns die Vorbereitungen des Rennens an. Es beginnt ja bald.« Kim interessierte sich im Grunde überhaupt nicht mehr für den Wettkampf. Viel lieber wollte er mit Limb sprechen, hatte er doch das Gefühl, hier einen Verbündeten gefunden zu haben. Trotzdem folgte er Oak höflich, als sie sich auf das große, wimpelgeschmückte Zelt in der Mitte des Astes zubewegten.

Während sie durch die Menge eilten, die drängelte und schubste, fiel Kim auf, daß auch Leute darunter waren, die Kleider trugen wie er selbst, und deren Haar kein Blattwerk war. Offensichtlich hatte das Fest Besucher von überallher angelockt, nicht nur aus der Baumwelt. Die Baumleute selbst schienen zudem nicht ganz so kunterbunt durcheinandergemischt zu sein, wie es auf den ersten Blick ausgesehen hatte. Es gab gelbe, grüne, rote, blaue, violette und weiße Baumleute, und wenn man ganz genau hinsah, dann konnte man erkennen, daß die einzelnen Farben sich zu Gruppen zusammengefunden hatten, und nur hier und da standen ein paar Baumleute zwischen solchen, deren Farbe sich von ihrer eigenen unterschied.

Auf Kims Frage gab Oak bereitwillig Auskunft. »Es sind verschiedene Stämme«, sagte er. »Aber die Farbe hat nichts zu sagen - nicht viel, jedenfalls. Außer vielleicht die Blauen - von denen solltest du dich fernhalten. Es ist ein eingebildetes Volk, das ganz oben in den Wipfeln lebt. Sie halten sich für etwas Besseres, weil sie dem Himmel näher sind.«

Und auch das hinterließ einen unguten Nachgeschmack bei Kim. Allmählich begann er zu begreifen, was hier vorging. Und wenn es so war, wie er glaubte, dann erschreckte es ihn zutiefst.

Vorerst jedoch kam er nicht dazu, Oak weitere Fragen zu stellen, denn sie hatten das Festzelt erreicht. Es war ein riesiges Zelt, dessen Taue mit großen stählernen Haken tief in das Holz des Astes getrieben worden waren, und das sicherlich Platz für zwei-, wenn nicht dreihundert Personen bot. Kim fiel auf, daß das hintere Drittel mit einem Tau abgesperrt worden war und sich dort nur eine Handvoll Leute aufhielt, obwohl der Rest des Zeltes vor Besuchern schier aus den Nähten platzte.

»Was ist dort los?« erkundigte sich Kim.

»Das sind die Teilnehmer des Wettlaufs«, antwortete Oak. »Er beginnt bald. Warte - ich hebe dich hoch, damit du besser sehen kannst.« Und ehe Kim dagegen protestieren konnte, hatte Oak ihn in die Höhe gestemmt und wie ein Kind auf seine mächtigen Schultern gesetzt.

Natürlich hatte Kim aus der Höhe heraus einen sehr viel besseren Überblick. Er sah jetzt, daß sich außer den acht Eisenmännern, die er schon zuvor erblickt hatte, noch jeweils fünf oder sechs Baumleute von jeweils der gleichen Farbe in dem abgesperrten Bereich des Zeltes eingefunden hatten, dazu noch eine Anzahl auswärtiger Läufer - warum auch nicht? Schließlich hatte Oak auch Kim eingeladen, mitzulaufen.

Und dann sah er ihn - den schwarzen Ritter!

Im allerersten Moment fiel er kaum auf - einfach eine dunkle Gestalt zwischen den farbenfrohen Blätterkleidern. Aber dann bewegte er sich, und Kim sah, daß der Mann - er war schlank und nicht viel größer als Kim - tatsächlich eine schwarze Rüstung trug. Nicht irgendeine Rüstung, sondern ein verbeulter, fleckiger Harnisch mit wulstigem Helm und gepanzerten Arm- und Beinteilen, in einer Farbe, die eigentlich kein Schwarz mehr war, sondern eher aussah, als sauge sie alles Licht und Farbe auf, die das Metall berührten. Es war eine Rüstung der gleichen Art, wie Kim selbst sie einst getragen hatte - damals, als die schwarzen Ritter Morgons dem Lande Märchenmond und seinen Bewohnern um ein Haar den Untergang gebracht hätten! Aber sie waren doch vernichtet worden! Wie konnten sie jetzt wieder auftauchen, um...

»Laß mich runter!« Kim zappelte ungeduldig. »Schnell, Oak!«

Oak gehorchte verblüfft, und Kims Füße hatten kaum den Boden berührt, da riß er sich schon los und versuchte, sich seinen Weg durch die Menge nach vorne zu erkämpfen. Er mußte diesen Fremden genauer sehen. Er mußte sich selbst davon überzeugen, daß ihn seine Augen nicht über die Entfernung hinweg getäuscht hatten. Wenn die Schrecken Morgons wieder aus der Vergangenheit auferstanden waren, dann war Märchenmond in noch größerer Gefahr, als Kim geahnt hatte!

Er schaffte es nicht. Die Schaulustigen standen dicht an dicht, und Kim hatte das Seil noch nicht einmal ganz erreicht, als plötzlich ein lauter Knall erscholl und sich die gesamte Rückwand des Zeltes teilte. Unter dem gewaltigen Johlen und Schreien der Menge schössen die Wettläufer hinaus.

Kim stolperte weiter, duckte sich unter dem Seil hindurch - und fegte hinterher! Ein Mann mit weißen Blättern wollte ihn zurückhalten, wobei er unentwegt etwas wie ›Anmeldung‹ rief, aber Kim entwischte ihm mit einer flinken Bewegung und schritt schneller aus, um das Feld der Läufer einzuholen. Das matte Schwarz der Rüstung, dem sein besonderes Interesse galt, bewegte sich irgendwo zwischen den anderen Läufern. Trotz des Zentnergewichtes seiner Kleidung legte der Mann ein überraschend scharfes Tempo vor.