Kim sah bald ein, daß er sich kräftig verschätzt hatte. Er hatte alle Mühe, nicht zu weit hinter den Läufern zurückzufallen; gar nicht daran zu denken, sie etwa einzuholen. Selbst die Eisenmänner liefen fast so schnell wie Kim, wenngleich sie allmählich hinter den anderen zurückzufallen begannen. Aber das besagte nichts. Kim wußte nur zu gut, daß die rostroten Giganten keinerlei Erschöpfung kannten.
»Heda!« piepste plötzlich eine Stimme hinter Kim. »Wo willst du hin?«
Kim warf im Laufen einen Blick über die Schulter zurück und erkannte Bröckchen, das wieselflink hinter ihm herwuselte. »Du kannst mich doch nicht allein zurücklassen!«
»Keine Zeit!« schrie Kim atemlos. »Warte hier auf mich!« Aber Bröckchen gefiel das eindeutig nicht - es beschleunigte, stieß sich ab und landete wieder auf seinem Stammplatz: Kims Schulter.
Allmählich näherten sich die ersten Läufer dem gewaltigen Baumstamm, wo sie leichtfüßig die Treppe hinaufzurennen begannen. Kim folgte ihnen in immer größer werdendem Abstand und nicht halb so leichtfüßig, sondern keuchend und japsend und in Schweiß gebadet. Noch ehe er die ersten Stufen hinter sich gebracht hatte, war er so erschöpft, daß er am liebsten auf der Stelle niedergesunken wäre. Aber das durfte er nicht. Ein schwarzer Ritter aus Morgon - unvorstellbar! Kim mußte ihn einholen.
Keuchend erreichte er die Abzweigung zum nächsthöheren Ast. Ein Teil der Läufer war bereits außer Sicht gekommen. Hier gab es keine Stadt mehr; der Ast wucherte mit seinen baumgroßen Nebentrieben und Zweigen ungestört, so daß eine Art Wald auf dem Riesenbaum entstanden war, und manche Läufer waren bereits darin verschwunden. Die Eisenmänner - aber auch der schwarze Ritter - waren nunmehr deutlich zurückgefallen und bildeten - von Kim einmal abgesehen - den Schluß des Feldes. Vielleicht begann er das Gewicht seiner Rüstung allmählich doch zu spüren. Aber je länger Kim hinter ihm herlief, desto weniger glaubhaft erschien ihm diese Erklärung. Die Schritte des Schwarzen schienen nicht etwa weniger geschmeidig oder unsicher - er wurde nur einfach immer langsamer; fast als fiele er absichtlich ein Stück hinter die anderen zurück. Schließlich waren selbst die Eisenmänner eine gute Strecke vor ihm, und der Abstand zwischen ihm und Kim schmolz ebenfalls.
Dann blieb der Ritter plötzlich stehen. Und auch Kim hielt ein und huschte hinter einen niedrigen Strauch. Gerade noch im richtigen Moment, denn der Fremde sah sich rasch und verstohlen nach allen Seiten um und wich dann fast im rechten Winkel von seiner bisherigen Richtung ab. »He!« pfiff Bröckchen überrascht. »Was tut er da?«
»Keine Ahnung«, gestand Kim. »Aber wir finden es heraus.« Rasch und so leise er konnte, folgte er dem anderen und drang an derselben Stelle ins Unterholz ein, wie dieser zuvor.
Der Wald wurde so dicht, daß Kim wahrscheinlich kaum noch von der Stelle gekommen wäre, hätte er nicht dem Pfad folgen können, den der schwarze Ritter in das Unterholz gebrochen hatte - und dann stand er plötzlich vor einem jäh aufklaffenden Abgrund. Kim hatte den Rand des Astes erreicht. Unter ihm war nichts mehr als leere Luft - und die Oberfläche des nächsten Astes, gute zwei oder drei Flugminuten entfernt, Luftlinie und senkrecht. Einen halben Schritt mehr, und Kim wäre in die Tiefe gestürzt. Hastig wich er ein Stück zurück und sah sich mit klopfendem Herzen um. Wo war der Fremde?
Erst nach erheblichem Suchen entdeckte ihn Kim - in einer Richtung, in der er ihn am allerwenigsten vermutet hätte: gerade unter sich. Die schwarzeiserne Gestalt kletterte langsam, aber mit großem Geschick eben an einem mit zahllosen Knoten versehenen Tau hinab, das am Ast befestigt war.
»Der Kerl bescheißt!« keifte Bröckchen aufgebracht. »Der nimmt eine Abkürzung!«
Dieser Gedanke erschien Kim eher abwegig. Ein derartiger Betrug wäre einfach zu plump gewesen - und völlig sinnlos dazu, denn von Oak hatte er erfahren, daß es in diesem Rennen um nichts anderes ging, als zu gewinnen. Es gab keinen anderen Preis für den Gewinner als den Sieg. Aber vielleicht hatte sich der Schwarze ja gar nicht von den anderen getrennt, um sich den Sieg zu erschwindeln ... Vorsichtig ließ sich Kim auf die Knie herabsinken und beugte sich vor, so daß er den Ritter im Auge behalten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Er wartete, bis die winzige Gestalt darunter den nächsten Ast erreicht hatte, dann raffte Kim all seinen Mut zusammen, drehte sich herum - und begann Hand über Hand ebenfalls an dem Knotenstrick in die Tiefe zu klettern. Bröckchen begann zu kreischen und Kim immer unflätiger zu beschimpfen, aber der kletterte unbeirrt weiter.
Es war mühsam, am Seil hinabzuklettern, aber doch leichter, als Kim erwartet hatte. Seine Arme und Beine fühlten sich an wie überdehnte Gummibänder, als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, und er blieb einen Moment stehen, um wieder zu Kräften zu kommen. Trotzdem fühlte er sich nicht halb so erschöpft, wie er es nach dieser Anstrengung eigentlich hätte sein müssen. Er sah sich um. Von dem schwarzen Ritter war keine Spur mehr zu sehen. Kein Wunder, denn die Oberfläche dieses Astes war noch verwilderter als die oben. Die ›Bäume‹ standen hier so dicht, daß an vielen Stellen überhaupt kein Durchkommen mehr zu sein schien, und auf dem Boden lag eine dicke Schicht aus abgestorbenem Blattwerk und Humus. Es fiel Kim immer schwerer, sich daran zu erinnern, daß er sich auf dem Ast eines riesigen Baumes halb auf dem Weg zum Himmel befand, und nicht auf festem Boden.
Nach einer Weile fand er aber, wonach er Ausschau gehalten hatte: Schwere Metallstiefel hatten Spuren im weichen Boden hinterlassen. Er folgte ihnen.
Obwohl mit der Kletterpartie eine Menge Zeit verlorengegangen war, holte Kim den Fremden bald ein. Dieser hatte sich nicht sehr weit entfernt und hockte in nur wenigen hundert Schritten Entfernung hinter einem Busch, um gebannt auf den schmalen Weg hinauszustarren, der sich vor ihm durch das Dickicht wand. Kim blieb überrascht stehen, und es dauerte eine Welle, bis ihm einfiel, schleunigst zurückzuweichen und sich zu verstecken. Ein heißer Schrecken stieg in ihm auf. Wäre der schwarze Ritter nicht ganz und gar auf den Weg vor sich konzentriert gewesen, dann hätte er Kim gewiß bemerkt.
Vorsichtig lugte Kim über den Rand seiner Deckung und über die Schultern des Mannes vor ihm hinweg ebenfalls auf den Weg hinaus. Zuerst fiel ihm gar nichts Besonderes auf - allenfalls, daß sich auf der anderen Seite des Pfades ein besonders wuchtiger Auswuchs des Astes befand, der wie ein gewaltiger Felsbrocken aussah, so zerschrunden und verwittert war seine Oberfläche. Der Weg wand sich in einer engen Kehre darum und verschwand auf der anderen Seite wieder im Dickicht.
Dann hörte er Lärm, zuerst nur ganz leise, dann aber rasch näher kommend und immer lauter - das Trappeln zahlreicher, schneller Schritte und keuchende Atemzüge. Es waren die ersten Läufer, die ankamen.
Aber warum, überlegte Kim verblüfft, hatte sich der Mann solche Mühe gemacht, den Weg abzukürzen, wenn er die anderen jetzt an sich vorbeirennen ließ? Es war unverständlich. Und tatsächlich duckte sich der schwarze Ritter nur noch tiefer hinter seinen Busch, statt sich unauffällig an die Spitze des Feldes zu begeben - was er zweifellos gekonnt hätte, denn aus dem dichten Pulk von Menschen war mittlerweile eine weit auseinandergezogene Kette geworden, in der manchmal große Lücken klafften. Aber der Ritter wartete geduldig, bis auch die letzten an seinem Versteck vorübergelaufen waren.
Fast die letzten.
Denn ein gutes Stück hinter dem Feld der Wettläufer stampften die Eisenmänner heran, kein bißchen schneller als vorhin, aber auch nicht langsamer. Kim sah, wie sich der Ritter spannte. Steckte er etwa mit ihnen und damit mit den Zwergen unter einer Decke? Denkbar war es schon, bei einer Kreatur aus Morgen, dem Reich der Schatten und des Bösen.