»Auf mich?« wunderte sich Kim.
»Nicht nur Gorg und ich«, bestätigte Priwinn. »Ganz Märchenmond hat um deine Rückkehr gefleht - wenigstens die, die noch nicht verdorben sind«, schränkte er ein. »Wie meinst du das?«
Bevor Priwinrt antworten konnte, tauchte plötzlich ein schlanker Schatten aus einer Ecke des Raumes auf und näherte sich ihnen. Bröckchen pfiff erschrocken und kroch so dicht an Kims Hals heran, wie es nur konnte. Der Schatten kam näher und wurde zu einem pechschwarzen, riesengroßen Kater, der Kim und seinen papageienbunten kleinen Freund aus glühenden Augen betrachtete.
»Hallo«, sagte Kim erfreut. »Wer bist du denn?«
»Die Frage könnte ich zurückgeben«, knurrte der Kater. »Schließlich bist du in mein Haus gekommen, und nicht umgekehrt.«
Kim ächzte, während Priwinn hinter vorgehaltener Hand leise in sich hineinlachte.
»Er versteht mich«, entfuhr es Kim.
»Natürlich«, maulte der Kater. »Was hast du gedacht?« Priwinn platzte nun doch vor Lachen heraus. »Sheera macht sich gerne einen Spaß daraus, die Leute zu verblüffen«, sagte er. »Aber er ist ein netter Kerl - wenn auch seine Manieren manchmal etwas zu wünschen übriglassen«, fügte er mit einem tadelnden Seitenblick auf den Kater hinzu. »Manieren? Was heißt hier Manieren?« ereiferte sich Sheera. »Bin ich etwa hier reingekommen, ohne anzuklopfen und habe mich ungefragt in anderer Leute Haus breitgemacht, oder der da? Nicht mal vorgestellt hat er sich.«
»Mein Name ist Kim«, sagte Kim hastig. Er machte eine Kopfbewegung auf seine Schulter herab. »Und das ist ... Bröckchen.«
»Bröckchen, so«, knurrte Sheera. »Winzling würde besser passen. Wieso ist er so kunterbunt?«
»Wieso bist du so schwarz, du Flegel?« gab Bröckchen ärgerlich zurück. »Und was ist das überhaupt für ein Benehmen, Gäste so anzufahren?«
»Gäste? Ha!« Sheera hob eine Pfote und ließ fünf rasiermesserscharfe Krallen hervorschnellen. »Paß bloß auf, du Großmaul, daß ich dir nicht zeige, was ich mit uneingeladenen Landstreichern mache, die in mein Haus kommen.«
»Na, dann komm doch, komm doch!« keifte Bröckchen und begann kampflustig auf Kims Schulter auf und ab zu trippeln.
Sheeras Augen wurden zu schmalen, gelben Schlitzen. »Du fühlst dich wohl sehr sicher da oben, wie?« knurrte er. »Hört auf, ihr beiden«, sagte Priwinn streng.
Aber Bröckchen und der Kater waren nicht mehr zu bremsen.
»Wenn du glaubst, daß ich Angst vor dir habe, dann täuscht du dich, du schwarzes Ungeheuer!« - »So?« knurrte Sheera. »Dann komm runter da. Wir gehen vor die Tür und machen uns dort den Rest aus!«
»Nun ja ...«, murmelte Bröckchen. »Theoretisch gerne.«
»Und praktisch?«
»Ich schlage mich nicht mit gemeinem Pack«, tönte es von oben.
Und: »Gemeines Pack?« kreischte es von unten.
»Aber bitte, wenn du darauf bestehst, dann ...«, sagte Bröckchen mutig.
»Also los«, knurrte Sheera und klappte kampfbereit sämtliche Krallen aus seinen Pfoten.
»Nicht jetzt«, antwortete Bröckchen verschmitzt. »Ich erwarte dich unmittelbar nach Sonnenuntergang.«
»Wie du meinst«, sagte Sheera und machte einen Buckel. »Also, das würde ich mir überlegen«, warf Kim ein.
»Bröckchen ist -«
»Schluß jetzt«, unterbrach ihn Priwinn ungeduldig.
»Verschwinde, Sheera. Und dein kleiner Freund da«, fügte er in Kims Richtung gewandt hinzu, »sollte lieber sein vorlautes Mundwerk im Zaum halten. Mit Sheera ist nicht zu spaßen.« Er machte eine ärgerliche Geste. »Ich denke, wir haben Wichtigeres zu besprechen.«
Da war Kim mit ihm einer Meinung. Trotzdem blickte er dem Kater verblüfft nach, als dieser mit stolz erhobenem Haupt aus dem Haus spazierte.
»Woher hast du ihn?« fragte er.
»Sheera?« Priwinn lächelte, aber er wirkte dabei ein bißchen traurig. »Er ist mir zugelaufen, vor einem Jahr. Oder ich ihm, ganz wie man will.«
Kim blickte dem Kater sinnend nach.
»Früher einmal gab es viele Tiere, die sprachen«, sagte Priwinn düster. »Aber das ist lange her. Ich habe seit Ewigkeiten keine mehr getroffen, außer Sheera. Manchmal glaube ich, daß er der letzte seiner Art ist.«
»Was ist geschehen?« fragte Kim leise.
Priwinn seufzte. »Wenn ich das wüßte«, sagte er. »Etwas ... geschieht in Märchenmond. Etwas Schreckliches.« Er sah Kim so erwartungsvoll an wie schon einmal der Bauer Brobing. »Ich... ich hatte gehofft, daß du mir diese Frage beantworten kannst.«
Aber das konnte Kim noch immer nicht, so gerne er es auch getan hätte.
Und so begann er zu erzählen, wie er hierher gekommen war und was er bisher erlebt hatte. Priwinn hörte schweigend zu, ohne auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen, und vieles von dem, was er hörte, schien in zu erschüttern. Sogar als Kim mit seinem Bericht zu Ende gekommen war, herrschte noch eine Weile bedrücktes Schweigen.
»Kelhim tot?« murmelte Priwinn schließlich. »Das ... das ist schlimm.«
Kim blickte flüchtig zum Fenster. Gorg hatte das Gesicht abgewandt, aber seine Schultern zuckten, als kämpfe der Riese mit den Tränen.
»Und doch gibt mir das Anlaß zur Hoffnung«, fuhr Priwinn plötzlich fort.
Kim sah erstaunt auf, doch schon sprach der Prinz weiter.
»Er kann nicht vollständig zum wilden Tier geworden sein, nach dem, was du erzählt hast, denn am Ende ist Kelhim wieder er selbst geworden. Das heißt, daß noch nicht alle Hoffnung verloren ist.«
»Hoffnung worauf?« wollte Kim wissen.
»Daß alles ... wieder so wird, wie es einmal war«, antwortete Priwinn stockend. »Märchenmond hat sich verändert, Kim. Und es verändert sich weiter, immer schneller und schlimmer.« Der Steppenprinz nickte ernst wie zur Bestätigung seiner Worte. »Nimm die Baumleute. Sie sind das friedlichste Volk, das es in unserer Welt gibt. Und doch haben selbst sie sich bereits verändert. Es war einmal ein Volk, das viel Freude am Leben hatte, das gern lachte und endlose Feste feierte. Heute ...« Er rang einen Moment mit sich. »Du hast Limb erlebt. Und die anderen auch, auf dem Fest. Dieser Baum war früher eine große Gemeinschaft, die niemanden danach fragte, wer er war oder wie er aussah. Noch vor einigen Jahren wußte man hier gar nicht, was das Wort Streit bedeutet. Heute leben die einzelnen Stämme in getrennten Städten. Die Blauen verachten die Grünen, die Grünen machen sich über die Gelben lustig, die Gelben hassen die Weißen und so fort. Und dabei merken sie nicht einmal, was mit ihnen geschieht.«
»Einige offensichtlich schon«, wandte Kim ein.
»Du meinst Limb und die anderen Gelben?« Priwinn schüttelte traurig den Kopf. »Oh nein, das täuscht. Sicher, sie haben recht, daß die Eisenmänner dem Baum schaden. Aber sie kennen kein Maß in ihren Zielen ...«
»Jemand kommt«, unterbrach ihn Gorg vom Fenster her. »Limb?«
»Ja«, antwortete der Riese nach einigen Augenblicken. »Er scheint es ziemlich eilig zu haben.«
Priwinn und Kim blickten erwartungsvoll zur Tür, und tatsächlich kam Limb, der Gelbe, schon wenig später hereingestürmt, vollkommen außer Atem und in Schweiß gebadet. »Ihr müßt fort«, rief er sogleich. »Ihr seid verraten worden. Wir alle sind verraten worden. Sie haben die zerschlagenen Eisenmänner gefunden und wissen, was geschehen ist.«
»Himmel!« schrie Priwinn und stand mit einem Satz auf. »Wie ist das möglich?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Limb, der noch immer nach Luft rang. Er war wohl die ganze Strecke bis hier herauf gerannt. »Und es kommt noch schlimmer: Sie wissen, daß wir uns in der neuen Stadt verborgen halten und sind auf dem Weg hierher. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Und ich muß fort, ich muß die anderen warnen.« Plötzlich ballte er die Fäuste. »Ich hätte gute Lust, diese ganze verdammte Stadt in Brand zu stecken.«
»Aber warum denn?« wunderte sich Kim.
Limb starrte ihn zornig an. »Das fragst du? Weil der Preis dafür viel zu hoch ist. Sieh dich doch bloß um!«