Das tat Kim denn auch. Aber ihm fiel nichts Besonderes auf - außer vielleicht, daß das Haus viel größer und sorgfältiger verarbeitet war als bei Oak unten auf dem ersten Ast. »Du siehst nichts?« schrie Limb aufgebracht. »Dann schau her!«
Und damit riß er den Stuhl, auf dem Priwinn gerade noch gesessen hatte, heftig in die Höhe und schmetterte ihn mit aller Kraft auf den Tisch herab.
Tisch und Stuhl zerbrachen, und da wurde Kim klar, was der gelbe Blättermann meinte.
Diese Möbel waren nicht natürlich aus dem Baum gewachsen wie in Oaks Haus. Sie bestanden aus einzelnen gehobelten und kunstvoll verarbeiteten Brettern. Wie alles andere auch hier in diesem Zimmer, dem ganzen Haus, ja, der ganzen Stadt.
»Sie schneiden das Holz aus dem Herzen des Baumes heraus!« sagte Limb. »Was Jahrhunderte gebraucht hat, zu wachsen, wird binnen kurzem nun zerschnitten und zerstört. Und nur, weil das Alte nicht mehr genügt.«
»Aber es sind doch nur ein paar Bretter«, warf Kim vorsichtig ein.
»Nein!« widersprach Limb. »Es sind nicht ein paar Bretter, es ist der Anfang vom Ende. Wer soll hier noch leben, wenn einmal nichts mehr vom Herzen dieses Baumes übriggeblieben ist?«
»Aber wächst es denn nicht nach?«
»Nun, wenn überhaupt, dann so langsam, daß es für uns keine Bedeutung hat. Dieser Baum ist alt, Kim, unendlich alt. Und es gibt nur diesen einen, unser Volk kann nirgendwo anders leben, ist er einmal verbraucht.«
Er brach ab, und Kim sagte nichts mehr, obwohl ihm noch viel auf der Zunge lag.
»Wir sollten jetzt gehen«, mahnte Priwinn in das unbehagliche Schweigen hinein. »Wenn sie dich finden, wirst du eine Menge unangenehmer Fragen beantworten müssen.«
»Sie werden mich nicht finden«, sagte Limb trotzig.
»Aber ihr drei solltet euch auf den Weg nach Gorywynn machen, dort sprecht mit Themistokles, dem Zauberer. Vielleicht hilft das, diese Narren hier zur Einsicht zu bringen. Also geht.«
Priwinn und Kim verließen das Haus, und Gorg schloß sich ihnen draußen an. Kim wollte sich nach links wenden zur Treppe hin, aber Prinz Priwinn schüttelte den Kopf. »Das hätte wenig Sinn«, sagte er. »Wir würden ihnen genau in die Arme laufen. Wir nehmen besser einen anderen Weg.«
Plötzlich lächelte Priwinn wieder. »Paß nur auf.«
Er legte den Kopf in den Nacken, formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und stieß einen hohen, trällernden Laut aus.
Für ein paar Augenblicke war es still. Aber dann hörte Kim ein mächtiges Rauschen, und als er den Kopf hob, sah er, wie aus der sinkenden Sonne heraus ein gewaltiger goldener Schemen auf den Baum herabstieß.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Ein riesiger goldener Drache landete dicht neben ihnen auf dem Ast. Priwinn und Gorg kletterten rasch in seinen Nacken. Aber noch bevor Kim auch nur seiner freudigen Überraschung Ausdruck verleihen konnte, hatte Gorg ihn samt seinem kleinen Freund kurzerhand in die Höhe gehoben und vor sich hingesetzt. Im nächsten Moment schwang sich der Drache Rangarig auch schon mit einem mächtigen Flügelschlagen in die Luft und schwenkte nach Süden.
Während Rangarigs goldschimmernde Schwingen sie über das Land trugen, geschah etwas, von dem Kim zwar schon gehört, es aber noch nie selbst erlebt hatte: Sie holten den Tag ein. Der Drache flog schneller, als sich die Sonne bewegte, und so genoß Kim zum erstenmal das seltene Schauspiel, den lodernden roten Feuerball wieder über den Horizont in die Höhe klettern zu sehen, noch ehe er vollends versunken war. Natürlich nicht sehr weit - Rangarig war zwar ein gewaltiges Wesen mit schier unerschöpflichen Kräften, aber er war so dahingerast, daß er jetzt an Höhe zu verlieren begann und nach einem Landeplatz Ausschau hielt.
Sie fanden einen Flecken, der ihnen sicher schien: ein kahles Felsplateau mit nur wenigen kümmerlichen Büschen und Moos. Es fiel an allen Seiten nahezu lotrecht Hunderte von Metern weit ab. Nichts, was keine Flügel hatte oder klettern konnte wie eine Spinne, würde sie hier oben erreichen.
Der Drache setzte sanft wie ein fallendes Blatt auf dieser natürlichen Burg auf, und sie kletterten nacheinander von seinem Rücken. Kims Beine zitterten. Gorg hatte ihn zwar festgehalten, aber der Flug des Drachen war so pfeilschnell gewesen, daß Kim sich trotzdem mit aller Macht an einen der hornigen Auswüchse geklammert hatte, die hinter Rangarigs Schädel hervorwuchsen. Kims Gesicht brannte vom Wind, und seine schmerzenden Augen tränten. Und doch eilte Kim, kaum hatten seine Füße festen Boden berührt, um den Drachen herum, sprang mit einem Satz über seinen langen geschuppten Schwanz und rannte nach vorne, um Rangarig ins Gesicht blicken zu können. Der Drache kam ihm viel größer vor als beim letztenmal, und im Licht der Sonne, die nun zum zweitenmal an diesem Abend sank, schimmerten Rangarigs handgroße Schuppen eher wie sprödes Kupfer denn wie Gold. Seine Augen - jedes einzelne davon war größer als Kims ganzer Kopf - blickten ausdruckslos auf Kim herab, und sein Atem ging rasselnd und schwer. Der rasende Flug hatte den Drachen doch sehr erschöpft.
Eine Weile stand Kim einfach da, mit weit in den Nacken gelegtem Kopf und blickte in das riesige Drachengesicht hinauf. Er suchte vergeblich nach Worten. Seine Freude, Rangarig wiederzusehen, war ebenso groß gewesen wie vorhin, als er Prinz Priwinn und den Riesen Gorg getroffen hatte. Aber seit Rangarig auf dem Baum gelandet war, war einige Zeit vergangen - und außerdem spürte Kim, daß mit dem Drachen etwas nicht stimmte.
»Rangarig«, sprach er ihn schließlich an. »Wie geht es dir?« Er kam sich ein wenig albem bei diesen Worten vor, aber sie waren das einzige, was er herausbrachte. Und zum erstenmal, seit er dieses machtvolle Wesen kannte, empfand er es als furchteinflößend.
»Gut«, knurrte Rangarig - und das war für den Drachen, dessen Geschwätzigkeit überall im Lande regelrecht berüchtigt war, nun wirklich eine ungewöhnliche Antwort. Was war mit Rangarig los? Kim hatte nicht unbedingt erwartet, daß der Drache vor Freude dreimal in die Luft sprang. Aber daß er so gar kein Zeichen gab?
»Es ist... lange her, daß wir uns gesehen haben«, sagte Kim unsicher.
»Für dich vielleicht«, brummte Rangarig. »Wir Drachen rechnen in anderen Zeiträumen.« Und in einem Ton gelangweilter Höflichkeit fügte er hinzu: »Wie ist es dir ergangen - inzwischen?«
»Auch gut«, murmelte Kim verlegen. Er fing einen Blick von Priwinn auf und begriff, daß der junge Steppenprinz ihm etwas sagen wollte. »Wir reden später weiter, ja?« Rangarig wandte gleichgültig den mächtigen Kopf und bettete die Schnauze auf die übereinandergelegten Vordertatzen. »Meinetwegen.«
Kim war erleichtert, als er sich von dem Drachen entfernen konnte. »Was ist denn los mit ihm?« wandte er sich verwundert an Priwinn.
Priwinn legte rasch den Zeigefinger über die Lippen und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Sie gingen fast bis ans andere Ende des Felsplateaus, um sicher zu sein, daß Rangarig außer Hörweite war.
»Was ist los?« fragte Kim noch einmal. »Wieso ist er so abwesend? Habe ich ihm irgend etwas getan?«
»Nein«, antwortete Prinz Priwinn hastig und wieder mit diesem sonderbar schmerzlichen Lächeln. »Es liegt nicht an dir. Er hat sich ... verändert. Aber er ist nicht immer so, keine Angst. Wahrscheinlich wirst du morgen früh alle Hände voll zu tun haben, damit er dich vor lauter Freude nicht abküßt.«
Kim blieb ernst. »Was ist geschehen?«
»Dasselbe, was in ganz Märchenmond geschieht«, antwortete Priwinn bitter. »Hast du Kelhim vergessen? Rangarig ist launisch geworden. Manchmal ist er so mürrisch wie ein alter Mann. Manchmal beginne ich ihn fast zu fürchten. Das ist es, Kim, was ich meine: Unsere Welt stirbt.«
»Unsinn!« widersprach Kim, aber das Wort kam zu schnell und zu heftig, um auch nur ihn selbst zu überzeugen. »Natürlich wird sie weiterbestehen«, meinte Priwinn. »Aber es wird nicht mehr die Welt sein, wie du sie einst gekannt hast. Ihre Bewohner werden böse und hart. Keiner gönnt dem anderen mehr etwas. Freunde werden zu Feinden und Nachbarn zu Fremden.«