Bröckchen wirkte enttäuscht. Aber er sagte nichts, sondern trollte sich zusammen mit Sheera, bis die beiden, unentwegt kichernd, in der Dunkelheit verschwanden.
»Du bist wirklich gut«, sagte Gorg kopfschüttelnd.
»Warum hast du uns nicht gesagt, daß du mit einem Wertier unterwegs bist?«
»Ich wußte bis jetzt nicht einmal, was das ist«, verteidigte sich Kim. »Es tut mir leid.«
»Du mußt dich nicht entschuldigen«, sagte Priwinn. Er blickte in die Richtung, in der Sheera und Bröckchen verschwunden waren. »Ich bin froh, daß es sie noch gibt.«
»Nun, das wird nicht mehr lange so sein«, schloß der Riese grollend.
Sie brachen am nächsten Morgen auf, noch bevor die Sonne auch nur halb über den Horizont gestiegen war; und Priwinns Prophezeiung, was Rangarigs Benehmen anging, stellte sich als nur zu wahr heraus: Es war, als erinnere sich der goldene Drache gar nicht mehr an seine groben Manieren vom vergangenen Tag, und seine Wiedersehensfreude war so überschäumend, daß Kim mehr als einmal allen Ernstes befürchtete, zwischen den gewaltigen Pranken des Drachen zerquetscht zu werden, so heftig drückte Rangarig ihn an sich. Und als sie endlich aufstiegen, da tollte Rangarig vor lauter Übermut so herum, daß seine Gäste schon fürchteten, abgeworfen zu werden - er schlug Kapriolen, ging ein paarmal spielerisch in einen so mörderischen Sturzflug herunter, daß selbst Gorg vor Angst aufschrie, und überschlug sich ein paarmal hintereinander in der Luft, bis Priwinn ihn mit scharfer Stimme zur Ordnung mahnte.
Was den Morgen anging, so war es genau umgekehrt wie am vergangenen Abend - statt in den Tag hinein, flogen sie mit der Nacht, so daß die Dämmerung der Frühe endlos schien. Kim fror erbärmlich, denn obgleich Gorg sich ganz nach vorne gesetzt hatte, um die anderen mit seinen riesigen Schultern vor dem eisigen Fahrtwind zu schützen, war die Kälte der Nacht noch groß. Als Rangarig schließlich wieder an Höhe verlor, um einen Landeplatz für die erste Rast zu suchen, war alles Gefühl aus Kims Gliedern gewichen. Er kam sich vor wie ein Eisblock. Seine Hände und Füße waren so taub, daß der Riese ihn von Rangarigs Rücken herunterheben mußte, denn allein hätte er es nicht mehr geschafft. Auch Bröckchen bibberte unter Kims Hemd. Als die lange Nacht dann endlich doch zu Ende ging, gewannen die Strahlen der Sonne jedoch rasch an Kraft, und sie spürten, wie die grausame Kälte allmählich verging und im gleichen Maße das Leben in ihre Körper zurückkehrte. Sie waren diesmal auf einem Berg gelandet, und es gab genug trockenes Holz, außerdem hatte Kim ja immer noch Brobings Feuersteine. Also schlug er vor, ein Feuer zu machen. Aber der Steppenprinz winkte ab und meinte kurz angebunden, es lohne sich nicht, dann drehte er sich um und wollte Kim einfach stehenlassen, aber der streckte rasch die Hand aus und hielt ihn fast mit Gewalt zurück.
»Das ist doch Unsinn«, sagte er. »Warum willst du nicht, daß wir ein Feuer machen?«
Priwinn maß ihn mit einem rätselhaften, unfreundlichen Blick und versuchte sich loszureißen, Kim jedoch hielt ihn eisern fest.
»Und wieso rasten wir immer an so einsamen Orten?« fuhr er fort und deutete auf das schroffe Gelände rundum. »Frag doch Rangarig«, gab Priwinn unwillig zurück. »Ich frage aber dich«, erwiderte Kim. »Priwinn - du verheimlichst mir etwas, nicht wahr? Dieser Berg ist ebenso unwegsam wie das Felsplateau gestern. Und du willst nicht einmal Feuer machen. Wovor versteckt ihr euch?«
Priwinn antwortete nicht, aber Kim, einmal in Fahrt gekommen, stellte nun endlich die Frage, die ihn bewegte, seit er den Prinzen wiedergetroffen hatte. »Was tust du überhaupt hier, Priwinn? Wieso bist du nicht in Caivallon, bei deinem Vater? Und wieso trägst du diese Rüstung?«
»Sie ist sehr nützlich«, antwortete Priwinn, wobei er die erste Frage geschickt überging. »Du solltest das besser wissen als ich. Du hast sie lange genug getragen.«
Kim sah noch einmal und genauer hin - endlich begriff er. Erstaunt riß er die Augen auf.
»Du siehst richtig«, sagte Priwinn. »Es ist die Rüstung, die du getragen hast, als du uns im Kampf gegen Boraas' Heer angeführt hast. Wir haben sie aufbewahrt, um uns immer an jene schrecklichen Tage zu erinnern. Und ich glaube auch, ein bißchen zu deiner Ehre.« Plötzlich lächelte er. »Wenn du willst, gebe ich sie dir zurück. Immerhin gehört sie dir.«
Für einen Moment spürte Kim die Verlockung, Priwinns Angebot anzunehmen und sich wieder in das schwarze Eisen aus Morgon zu hüllen. Die Rüstung war mehr als eine Rüstung, zumindest für ihn. Er hatte die magische Macht gespürt, die dem Schwert innewohnte und die ihn unbesiegbar machen konnte. Ja - für einen Moment stellte er sich vor, wie es wäre, die Rüstung anzulegen und zum zweitenmal an der Spitze eines Heeres in den Kampf zu reiten.
Aber in den Kampf gegen wen?
»Nein, danke«, sagte er nach einer Weile. »Behalte sie ruhig. Aber verrate mir, warum du sie überhaupt trägst. Und vor wem ihr auf der Flucht seid.«
»Vor niemandem«, antwortete Priwinn viel zu hastig, um überzeugend zu klingen. Und als er Kims zweifelnden Blick bemerkte, rettete er sich in ein verlegenes Lächeln und zuckte mit den Schultern. »Ich würde es nicht unbedingt Flucht nennen«, meinte er. »Aber du hast recht - es ist besser für uns, wenn wir unentdeckt bleiben.«
»Aber was ist der Grund?« wollte Kim wissen.
Wieder dauerte es eine geraume Zeit, bis Priwinn antwortete: »Du erinnerst dich an Limb, den Gelben?«
»Wie könnte ich nicht«, sagte Kim. »Es ist doch noch nicht so lange her!«
»Dann weißt du auch; wie die anderen auf dem Baum auf ihn reagiert haben. Sie verachten ihn und seinesgleichen. Sie sind unerwünscht. Und ich bin sicher, wenn die anderen könnten, würden sie ihnen schaden.«
»Aber was hat das mit dir und Gorg zu tun?«
»Uns ergeht es genauso«, antwortete Priwinn. »Wir teilen Limbs Ansichten, und ich fürchte, wir teilen auch sein Schicksal.«
»Ich verstehe kein Wort.« Kim wurde allmählich ungeduldig. Priwinn zuckte mit den Schultern und blickte zu Boden. »Sagen wir - es hat sich herumgesprochen, daß Gorg und ich etwas gegen die Eisenmänner haben. Da hat man uns zu verstehen gegeben, daß wir nicht allzu gern gesehen sind, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Dich?« fragte er zweifelnd. »Den Prinzen von Caivallon?«
Priwinn seufzte: »Ich sagte bereits mehrmals - es hat sich einiges geändert.«
»Das kann man wohl sagen«, meinte Kim, drehte sich herum, um zu Rangarig und dem Riesen Gorg zurückzugehen. Die Reise erschien ihm plötzlich doppelt lang. Es wurde allmählich Zeit, daß er Themistokles wiedersah und von ihm Antworten auf die Fragen bekam, die ihm auf der Zunge brannten. Sehr viele Antworten auf sehr viele Fragen.
XI
Aber sie brauchten noch lange, annähernd sechs Tage, um Gorywynn zu erreichen - und sie verloren eine weitere Nacht. Denn als die gläserne Burg am Abend des sechsten Tages wie ein regenbogenfarbiges Funkeln am Horizont in Sicht kam, ließ Priwinn vorher Rangarig landen; diesmal zwar nicht auf einem abweisenden Berg, wohl aber inmitten eines fast undurchdringlichen Waldstückes, in das die gewaltigen Schwingen des Drachen erst einmal eine Bresche schlagen mußten, damit er überhaupt niedergehen konnte.
Kim hatte sich fest vorgenommen, dem Steppenprinzen keine Fragen mehr zu stellen, auf die er ohnehin nur unklare Antworten bekommen würde. - Sie hatten während der vergangenen sechs Tage zwar viel miteinander geredet, aber Kim hatte begriffen, daß Priwinn gewissen Fragen gegenüber einfach taub zu sein schien. Doch jetzt platzte ihm doch der Kragen.
»Was soll das?« fuhr er Priwinn an, kaum daß sie von Rangarigs Rücken heruntergeklettert waren. »Wir könnten in einer halben Stunde da sein!«
»Wir verbringen die Nacht hier«, antwortete Priwinn bestimmt. »Rangarig ist müde. Und ich auch.«
»Unsinn!« protestierte Kim. Auch er fühlte sich erschöpft nach der langen Reise, und er glaubte Priwinn gerne, daß der Golddrache noch viel erschöpfter war, hatte er doch ihr aller Gewicht tragen müssen. Trotzdem - die restliche Strecke bis Gorywynn bedeuteten für Rangarig nur noch ein paar Flügelschläge mehr, auf die es gewiß nicht ankam. »Ich muß wissen, was hier vorgeht, ehe ich Gorywynn betrete«, erklärte Priwinn. »Es ist lange her, daß Gorg und ich dort waren. Mehrere Monate, um genau zu sein. Wer weiß, wie es dort jetzt aussieht.« Er schnitt Kim mit einer Handbewegung das Wort ab, als dieser ihn unterbrechen wollte. »Wir sind für heute abend mit einem Freund verabredet«, fuhr er fort. »Ein Mann aus Gorywynn. Er wird uns sagen, wie die Lage dort ist. Danach werden wir entscheiden, was weiter geschieht.«