»So lange will ich aber nicht mehr warten«, entgegnete Kim. »Ich muß mit Themistokles sprechen.«
Der Prinz zuckte mit den Schultern. »Dann geh doch«, sagte er. »Ich halte dich nicht zurück. Lauf ruhig los. Gorg und ich schlafen uns derweil gründlich aus. Sobald die Sonne aufgegangen ist, kommen wir nach und nehmen dich unterwegs auf.«
Plötzlich mußte Kim sich beherrschen, um nicht die Fäuste zu ballen und sich auf Priwinn zu stürzen. Und vielleicht hätte er es tatsächlich getan, wäre ihm nicht im gleichen Augenblick eingefallen, daß auch dies ein Teil der furchtbaren Veränderung war, die in Märchenmond vonstatten ging. Nicht nur seine Bewohner - auch er, Kim, begann sich zu verändern. Er war reizbar und ungeduldig geworden, und das lag nicht nur an der Anstrengung, die die Reise bedeutet hatte.
So starrte er Priwinn nur mit mühsam verhaltenem Zorn an, dann drehte er sich herum und überquerte die Lichtung, um zu Rangarig zu gehen, der am jenseitigen Waldrand eingerollt dalag. Anders als mit Priwinn und Gorg hatte Kim mit dem Drachen in den letzten Tagen sehr wenig gesprochen. Er war sehr schnell und ausdauernd geflogen, und die Reise hatte ihn am meisten von allen angestrengt. Sie hatten abends kaum festen Boden unter den Füßen, da ringelte er sich schon zusammen und schlief ein. Auch jetzt waren seine Augen geschlossen, so daß Kim schon befürchtete, er schliefe wieder. Aber als er näher kam, da hoben sich die großen Lider des Golddrachen, und in seinen Augen erschien ein mattes Lächeln.
»Hallo, kleiner Held«, sagte er. »Jetzt sind wir bald zu Hause.«
»Wir könnten es jetzt schon sein«, begann Kim zögernd. Rangarig schielte mit einem Auge über die Lichtung, und Kim begriff, daß er jedes Wort verstanden hatte, obwohl sie sehr weit entfernt gewesen waren. »Sicher«, befand Rangarig seufzend. »Aber er hat recht, weißt du? Besser, wir bringen erst in Erfahrung, wie es in Gorywynn aussieht. Und noch besser, wir ruhen uns aus und sammeln unsere Kräfte. Es könnte sein, daß wir sie brauchen.«
»Wieso?«
»Zum Beispiel, um uns schnell wieder aus dem Staub zu machen.«
»Du meinst - fliehen?« vergewisserte sich Kim zweifelnd. »Aber Gorywynn ist deine Heimat.«
Rangarigs Blick wurde traurig. »Das ist wohl wahr«, murmelte er. »Ich war einmal dort zu Hause, aber jetzt...« Er zögerte einen Moment. »Ich bin nicht mehr sicher, ob ich noch dorthin gehöre«, meinte er schließlich.
»Wie kannst du so etwas sagen!« fuhr Kim auf, aber Rangarig schüttelte den Kopf.
»Warum glaubst du Priwinn nicht?« fragte er. »Die Gläserne ist nicht mehr das, was sie einst war. Und auch ich bin es nicht mehr.« Er seufzte abermals, diesmal sehr tief. Es hörte sich fast ein bißchen wie ein Schluchzen an, fand Kim. »Manchmal sehne ich mich nach einem Ort, den ich gar nicht kenne, weißt du, kleiner Held.«
Kim schwieg, und Rangarig fuhr nach einer Weile mit gesenkter Stimme fort: »Manchmal spüre ich etwas in mir, das mich erschreckt. Dann sehne ich mich nach der Wildnis, nach der Einsamkeit. Nach den schroffen Bergen, in denen meine Verwandten leben. Vielleicht gehöre ich dorthin und nicht hierher.«
»Ich kenne deine Verwandten nicht«, antwortete Kim ernst. »Aber soviel ich weiß, sind Drachen sonst wilde Ungeheuer, die man fürchtet.«
»Eben«, murmelte Rangarig.
Kim wollte widersprechen, aber genau in diesem Moment glaubte er wieder Kelhims Gesicht vor sich zu sehen, das Antlitz der mordgierigen Bestie, in das sich der Bär verwandelt hatte.
Kim schauderte. Kelhim war ein sprechendes Wesen gewesen, so wie Bröckchen, wie Sheera - und wie Rangarig auch. Ist es das? dachte er entsetzt. Ist es das, was Priwinn meint und was wir alle spüren? Ist es der Zauber, der erlischt?
»Vielleicht«, erwiderte Rangarig, und Kim erkannte voller Schrecken, daß er den Gedanken laut ausgesprochen hatte. »Manchmal glaube ich, daß es so ist. Vielleicht erlischt der Zauber des Märchenlands. Doch wenn es so ist, kleiner Held, dann versprich mir eines.«
»Ja?«
»Sei nicht in meiner Nähe, wenn es geschieht«, sagte Rangarig. »Versuche nicht, mir zu helfen, denn du kannst es nicht.«
Plötzlich mußte Kim mit aller Kraft gegen die Tränen ankämpfen, die ihm in die Augen schießen wollten. »Ich verspreche es«, antwortete er. Aber er hatte Mühe, die Worte überhaupt herauszubringen. Und als er sich endlich wieder in der Gewalt hatte und der Drache nicht mehr vor seinen Augen zu verschwimmen schien, da war Rangarig bereits eingeschlafen. Kim wußte nicht einmal, ob Rangarig seine Worte überhaupt noch gehört hatte.
Niedergeschlagen kehrte Kim zu Priwinn und dem Riesen zurück. Sie aßen schweigend, und nicht einmal Bröckchens und Sheeras derbe Scherze vermochten Kim aufzuheitern. Für einige Augenblicke erwog er sogar ganz ernsthaft, Priwinns Angebot anzunehmen und sich allein auf den Weg nach Gorywynn zu machen - nicht etwa, weil er sich einbildete, zu Fuß schneller dort zu sein als am nächsten Morgen auf Rangarigs Rücken, sondern einfach, um allein zu sein. Natürlich tat er es doch nicht. Und Kim brachte sogar irgendwie das Kunststück fertig, sich kurz nach Einbruch der Dämmerung auf dem weichen Moos des Waldbodens auszustrecken und einzuschlafen.
Allerdings nicht für lange. Der Stand des Mondes verriet ihm, daß die Nacht noch nicht sehr weit fortgeschritten war, als er wieder hochfuhr; nicht von selbst, sondern geweckt durch Geräusche, die nicht zu ihnen gehörten. Und er hörte Gorgs und Priwinns Stimmen. Verschlafen setzte sich Kim auf, blinzelte ein paarmal - und wurde schlagartig hellwach, als er sah, daß die Freunde nicht allein waren.
Prinz Priwinn und Gorg, der Riese, hatten sich ein Dutzend Schritte von Kim entfernt und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen mit zwei hochgewachsenen Männern. Einer von ihnen gestikulierte unentwegt, während er sprach. Der andere stand stumm da und betrachtete abwechselnd seine Stiefelspitzen und den schlafenden Drachen, der wie ein Berg aus schuppigem Gold auf der anderen Seite der Lichtung lag. Eines von beiden schien ihn sehr nervös zu machen.
Kim stand auf und näherte sich der kleinen Gruppe. Da unterbrachen Priwinn und der Fremde ihre Unterhaltung, und der Prinz stellte Kim als ›einen Freund‹ vor, ohne seinen Namen zu nennen. Der Mann musterte den Jungen kurz mit unverhohlenem Mißtrauen, aber dann schien er mit Priwinns Erklärung einverstanden, denn er wandte sich wieder dem Steppenprinzen zu und knüpfte an seine unterbrochene Rede an: »... auch nicht mehr. Aber etwas geschieht in der Burg, mein Prinz. Seit Wochen hat niemand mehr Themistokles gesehen. Dafür wimmelt es von Zwergen. Nicht mehr lange, und ihnen gehört die ganze Burg und auch noch die gläserne Stadt drumherum.«
»Zwerge?« Gorg zog eine Grimasse, und Kim fuhr zusammen. »Und der Zauberer unternimmt nichts dagegen?«
»Ich sagte doch - niemand hat ihn gesehen. Außerdem - was sollte er tun? Sie sind nicht mit Gewalt eingebrochen.«
»Wie sonst?« fragte Kim.
Der Mann blickte ihn abermals mißtrauisch an und antwortete erst, als Priwinn ihn mit einer Handbewegung dazu aufforderte: »Sie wurden gerufen.«
»Von wem?«
»Von diesen Narren in Gorywynn!« rief der Mann heftig. »Eisenmänner hier, Eisenmänner da, Zwerge hier, Zwerge da!« ereiferte er sich. »Sie bauen und graben und drehen alles um, wohin man auch blickt. Das ist nicht die Art, in der ich leben will!« Er wandte sich mit einem zornigen Blick an Priwinn. »Es ist an der Zeit, endlich loszuschlagen, mein Prinz!« Priwinn warf ihm einen fast beschwörenden Blick zu, aber es war zu spät.