»Loszuschlagen?« fragte Kim. »Was meint er damit, Priwinn?«
»Ach, nichts«, wich Priwinn aus.
»Rede keinen Unsinn«, sagte Kim wütend. »Ich bin lange nicht hier gewesen, Priwinn - aber ich bin nicht dumm. Ihr zertrümmert Eisenmänner, wo ihr sie seht. Ihr meidet alle Lebewesen, und ihr habt Angst, euch in Gorywynn sehen zu lassen. Jetzt spricht dieser Mann von Losschlagen. Was hat das alles zu bedeuten?«
Priwinn antwortete nicht, aber der Fremde deutete mit einer Geste auf Kim und fragte: »Wer ist dieser Knabe, mein Prinz? Wieso laßt Ihr es zu, daß er so mit Euch redet?«
»Mein Name ist Kim.«
Die Augen des Mannes wurden rund. »Kim?« wiederholte er. »Du bist...« Und plötzlich stieß er überrascht die Luft zwischen den Zähnen aus - und fiel zu Kims unsagbarer Verblüffung auf die Knie.
»Natürlich!« keuchte der Fremde. »Verzeiht mir, daß ich Euch nicht gleich erkannt habe! Ihr seid es! Ihr seid zurückgekehrt! Jetzt wird alles gut! Mit Euch an unserer Spitze werden wir siegen!« Er wandte sich an Prinz Priwinn. »Warum habt Ihr uns nicht gesagt, daß er zurück ist?«
»Dazu war noch keine Gelegenheit«, sagte der Prinz hastig. »Er ist erst seit kurzem hier.«
Kim sah Priwinn erstaunt an. Aber weder Priwinn noch Gorg noch einer der beiden Fremden sagte etwas. Bröckchen knurrte übellaunig: »Begreifst du immer noch nicht, du kleiner Narr? Wenn mich nicht alles täuscht, dann wetzen deine sauberen Freunde schon eine ganze Weile die Messerchen, um ein paar Köpfe einzuschlagen - stimmt's?« Priwinn bedachte es mit einem wütenden Blick - aber zu Kims Überraschung antwortete er: »Keine Köpfe. Höchstens ein paar leere Eisenschädel.«
»Ihr wollt - einen Aufstand?« murmelte Kim fassungslos.
»Quatsch!« sagte Priwinn. »Wir wollen nur die Dinge ein wenig geraderücken, das ist alles. Die Zwerge und ihre Eisenmänner sind gefährlich. Und wenn die Leute dies nicht begreifen, dann müssen wir sie eben -«
»Zu ihrem Glück zwingen, wie?« unterbrach ihn Kim bitter.
»Wenn du es so ausdrücken willst.« Priwinn ballte zornig die Faust. »Ich werde jedenfalls nicht tatenlos zusehen, wie Märchenmond zugrunde geht!«
»Und du glaubst, ich würde euch dabei helfen?«
»Tu, was du willst«, Priwinn wandte sich mit einem Ruck um und stapfte wütend davon.
Kim blickte ihm mit einem wachsenden Gefühl von Hilflosigkeit nach. Er wollte ihm folgen, aber irgend etwas hielt ihn zurück. Zum zweitenmal an diesem Abend kämpfte er mit Macht gegen die Tränen, die ihm in die Augen schießen wollten. Aber diesmal waren es Tränen des Zorns und der Ohnmacht. Alles war so anders als bei seinem ersten Besuch hier in Märchenmond. Auch damals hatte die Existenz dieses Landes auf dem Spiel gestanden - aber da hatten sie wenigstens gewußt, wer ihre Feinde waren. Diesmal schien es tatsächlich, als ... als würden sie alle allmählich zu ihren eigenen Feinden.
»Ich ... ich verstehe das nicht, Herr«, sagte der Unbekannte, mit dem Priwinn gesprochen hatte. Der andere stand noch immer wortlos da und blickte Kim aus großen Augen an. »Seid Ihr denn nicht zurückgekommen, um ... um uns zu helfen?«
»Doch«, antwortete Kim. »Aber ich weiß noch zuwenig.« Der Mann wollte antworten, aber Gorg machte eine befehlende Handbewegung und sagte: »Geht jetzt. Wir werden uns beraten. Morgen, eine Stunde nach Sonnenaufgang, treffen wir uns in Gorywynn. Geht!«
Das letzte Wort hatte er fast geschrien. Hastig wandten sich die beiden Männer um und verschwanden im Wald. Rangarig hob flüchtig ein Augenlid, blinzelte und schnarchte dann weiter.
Für eine Weile breitete sich grimmiges Schweigen aus, als die beiden Besucher verschwunden waren. Gorg seufzte tief und schaute Kim an. Und Kim kam sich mit einem Male klein und mies vor. Der Riese - und auch Prinz Priwinn -, sie waren seine Freunde. Wenn sie ihm irgend etwas nicht gesagt hatten, dann ganz bestimmt nicht, um ihn zu hintergehen. Gorg starrte ihn indessen weiter an - dann fuhr er herum, packte Kim einfach am Arm und schleifte ihn auf den schnarchenden Drachen zu.
»Rangarig!« brüllte Gorg so laut, daß der ganze Wald widerzuhallen schien. »Wach auf! Wir machen einen kleinen Spazierflug!«
Gorywynn lag wirklich nicht weit entfernt vom Wald, als Rangarigs mächtige Schwingen die Luft zerteilten. Aber der geflügelte Drache setzte noch vor der Flußbiegung zur Landung an. Dort lag ein befestigtes Städtchen, so daß sie noch ein gutes Stück zu Fuß gehen mußten - und dann wäre Kim um ein Haar gegen die Wehrmauer gerannt, die den Flecken an drei Seiten umgab. Sie war von einer so dunklen Farbe, daß sie sich kaum von der Nacht unterschied. Gorg hielt Kim im letzten Augenblick mit einer Handbewegung zurück und legte gleichzeitig den Zeigefinger der anderen Hand über die Lippen: »Pst!«
»Was ist das hier?« flüsterte Kim.
Gorg zuckte hoch über ihm mit den Schultern. »Etwas, dessen Anblick ich dir gerne erspart hätte. Doch ich denke, es muß sein. Du tust Priwinn bitter unrecht, weißt du das?«
»Dann soll er mir doch endlich sagen, was hier eigentlich vorgeht«, flüsterte Kim, der schon wieder ärgerlich wurde. Aber Gorg lächelte nur. »Meinst du nicht, daß er das täte, wenn er es könnte?«
Er machte eine Handbewegung, als Kim antworten wollte, und fuhr fort: »Still jetzt. Komm - ich hebe dich auf die Schultern, damit du über die Mauer sehen kannst.«
Das tat er dann auch. Und noch bevor Kims Kopf über die Mauerkrone kam, erlebte er die erste Überraschung - seine Hände glitten haltsuchend über die Wand, und er spürte, wie kalt und glatt sie war. Viel zu kalt für Holz, und viel zu glatt für Stein.
»Das ist Eisen!« entfuhr es Kim.
»Sicher«, grollte Gorg. »Diese ganze Stadt hier ist aus Eisen erbaut. Aber sei leise - bitte. Wenn sie uns sehen, ist alles aus.«
Kim überlegte vergeblich, welche Gefahr das sein mochte, daß selbst der Riese sie fürchtete. Aber er schwieg gehorsam. Und was er sah, als Gorg ihn mit ausgestreckten Armen weiter in die Höhe hob, so daß er auf die andere Seite der eisernen Wand blicken konnte, das verschlug Kim ohnehin die Sprache.
Wie Gorg gesagt hatte, bestand nicht nur die Wehrmauer, sondern die ganze Stadt, die Kim mehr an eine große Festung erinnerte, aus Eisen. Rotes Licht fiel aus zahlreichen Fenstern ins Freie und ließ den unregelmäßig geformten Platz, der vor Kim lag, aussehen, als wäre er in geronnenes Blut getaucht. Zwischen den Gebäuden bewegten sich schattenhafte Gestalten, und einige darunter waren groß und kantig. Aber es gab auch kleine, wieselflinke Schatten, nicht größer als Kinder, deren Stimmen schrill und mißtönend zu Kim heraufwehten.
»Zwerge!« wisperte er.
Gorgs hochgestreckte Arme begannen zu zittern, als er mit seinem großen Kopf nickte. »Ja. Sie haben diese Stadt gebaut. Und sie befehligen sie auch.«
Kim sah sich aufmerksam um. Aus einigen der offenstehenden Türen drang nicht nur rotes Licht, sondern auch das helle Klingen und Schlagen von Hämmern. Manchmal stoben Funken auf, und der Wind brachte den Geruch von brennendem Eisen und glühender Kohle mit sich.
»Schmieden!« stellte Kim überrascht fest. »Aber was bauen sie hier?«
Der Riese hielt ihn noch einige Augenblicke in die Höhe, ehe er Kim behutsam wieder absetzte und dann antwortete: »Alles, was die Leute von ihnen wollen. Wagen. Werkzeuge. Waffen ...«
»Aber ich dachte, ihre Werkstätten liegen in den östlichen Bergen?«
»Die meisten, ja«, bestätigte Gorg. »Vielleicht entstehen dort auch die Eisenmänner, aber das ist ihr Geheimnis. Jedenfalls arbeiten sie öfter schon in Märchenmond selbst. Seit die Bewohner von Märchenmond immer mehr und mehr Waren von ihnen kaufen, ist es zu mühsam geworden, alles den weiten Weg von den östlichen Bergen hierher zu transportieren. Niemand hatte etwas dagegen, als die Zwerge vorschlugen, hier Schmieden zu bauen.«