»Doch«, sagte Gorg ernst. »Ich verlange keinen Pfennig dafür. Keine Sorge.«
Kim beugte sich vor und deutete mit dem Zeigefinger auf den Zwerg. »So, und jetzt bist du es, der uns ein paar Fragen beantworten wird«, sagte er. »Und ich rate dir, nicht zu lügen, sonst wird mein Freund hier der Wahrheit nachhelfen.« Der Riese grunzte zustimmend und machte ein so grimmiges Gesicht, daß selbst Kim einen Moment lang vor ihm erschrak.
»Also«, begann Kim ohne Umschweife. »Was habt ihr mit den verschwundenen Kindern zu tun?«
»Kindern?« murmelte der Zwerg. Sein Blick wanderte unstet zwischen Kims Gesicht und dem des Riesen hin und her. Er schluckte so heftig, daß Kim den Adamsapfel in seinem dürren Hals auf und ab hüpfen sehen konnte. »Wir hassen Kinder«, sagte er. »Wir haben bestimmt nichts mit ihnen im- äks!!«
Der Riese hatte ihn mit zwei Fingern am rechten Fuß gepackt, hob ihn hoch und tat so, als wolle er ihn aus drei Metern Höhe fallen lassen.
»Das war nicht die Antwort, die ich hören wollte«, sagte Kim. Er bedeutete Gorg mit Blicken, dem Zwerg nicht wirklich weh zu tun, und Gorg nickte. Er ließ den Knirps auch nicht fallen - aber er begann ihn grinsend zu schütteln, daß dessen Zähne hörbar aufeinanderschlugen.
»Laß mich los!« keifte der Zwerg.
»Gern«, sagte Gorg - und ließ ihn los.
Der Zwerg brüllte, und dann brüllte er noch einmal und noch lauter, als Gorg ihn im allerletzten Moment wieder auffing.
»Also?« fragte Kim noch einmal.
»Die Höhlen!« wimmerte der Zwerg. »Sie sind in den Höhlen. Sie -«
Und plötzlich erwachte die Nacht überall rings um sie herum zu schwarzem, eisenhartem Leben!
Gorg keuchte vor Schmerz und Schrecken, als ihn die Baggerhand eines Eisenmannes plötzlich im Nacken traf. Er taumelte, ließ den Zwerg nun wirklich los und fiel auf die Knie herab. Ein zweiter Eisenmann erschien aus der Dunkelheit und versetzte dem Riesen einen Tritt, der ihn vollends zu Boden schleuderte.
Auch Kim sah sich plötzlich von gleich zwei der gewaltigen eisernen Gestalten angegriffen. Es gelang ihm, den zuschnappenden Klauen auszuweichen, aber er büßte dabei einen Hemdsärmel und ein Stück der darunterliegenden Haut ein. Mit einem Schmerzensschrei stürzte er, fühlte etwas Hartes und griff instinktiv zu. Es war ein Schwert, daß der Zwerg fallen gelassen hatte.
Als sich der Eisenmann bückte, um ihm endgültig den Garaus zu machen, stieß er die Klinge schräg nach oben. Der Eisenmann prallte zurück, riß die Arme in die Höhe und stürzte nach hinten, wobei er einen zweiten Eisenmann mit sich riß. Keuchend kam Kim wieder auf die Füße. Auch Gorg hatte sich seiner Gegner entledigt und war wieder in die Höhe gekommen. Aber der Kampf war keineswegs vorüber - ganz im Gegenteil. Immer mehr und mehr Eisenmänner tauchten aus der Nacht auf, und es fiel Gorg und Kim immer schwerer, ihren zupackenden Klauen auszuweichen. Gorg schlug vier oder fünf von ihnen nieder, aber für jeden, den er zerstörte, schien die Nacht drei neue auszuspeien. Schritt für Schritt wurden Kim und Gorg zurückgedrängt, bis hinter ihnen nur noch die Grube lag.
Der Zwerg feuerte seine eisernen Mannen mit schrillen Rufen an. »Packt sie!« brüllte er unentwegt. »Macht ihn nieder! Aber nur den Riesen - den Jungen will ich unversehrt!«
»Lebend kriegt ihr mich ohnedies nicht!« dröhnte Gorg, packte plötzlich einen der Eisenmänner mit beiden Händen und riß ihn mit einer gewaltigen Kraftanstrengung in die Höhe. Wie ein lebendes Geschoß warf er ihn unter die anderen drohenden Gestalten, von denen fünf oder sechs unter dem Anprall ihres zweckentfremdeten Genossen in Stücke zerbrachen.
Und trotzdem hätten Kim und Gorg den Kampf verloren, denn immer mehr und mehr Eiserne tauchten aus der Dunkelheit auf - dann kamen auch Zwerge, drei oder vier, die der Kampflärm angelockt hatte und die mit spitzen Schreien ihre kleinen Schwerter schwangen.
Plötzlich hob ein gewaltiges Rauschen an, und noch ehe Kim auch nur begriff, was geschah, erschien ein riesiger goldener Scharten in der Luft. Ein markerschütterndes Brüllen ließ die Zwerge herumfahren. Selbst die Eisenmänner schienen eine Sekunde zu zögern.
Rangarig schoß wie ein angreifender Falke aus der Nacht herab. Seine titanischen Schwingen peitschten die Luft und entfachten einen Orkan, der nicht nur Kim und die Zwerge, sondern selbst Gorg von den Füßen riß. Die Eisenmänner waren zu schwer dafür - und genau das wurde ihnen zum Verhängnis.
Dem Sturm folgten Rangarigs goldene Schwingen. Die mächtigen Drachenflügel trafen die Eisenmänner, schleuderten sie wie welkes Laub davon und zermalmten sie gleichzeitig. Und wer den ersten Angriff überlebte, der fiel Rangarigs zupackenden Klauen zum Opfer oder seinem wild peitschenden Schweif.
Der Drache wütete wie ein goldener Dämon unter den Eisengestalten. Seine starken Kiefer zermalmten Eisenplatten, seine Klauen fetzten und rissen, und sein Schweif fegte mit einer einzigen Bewegung gleich ein halbes Dutzend Eisenmänner über den Rand der Grube in die Tiefe. Nicht einmal eine halbe Minute, nachdem der Drache erschienen war, war der Kampf auch schon beendet. Kein einziger Eisenmann hatte ihn überstanden.
Kim rappelte sich mühsam hoch. Sofort wollte er herumfahren und sich den Zwerg greifen, der wie seine Kameraden ebenfalls zu Boden gestürzt war, aber Gorg hielt ihn zurück. »Laß das«, sagte der Riese hastig. »Sie werden Verstärkung schicken! Rangarig kann es nicht mit Hunderten von ihnen aufnehmen! Schnell!«
Kim war da nicht so sicher. Nachdem, was er gerade gesehen hatte, glaubte er nicht mehr, daß es überhaupt etwas gab, mit dem der Drache nicht fertig wurde. Aber er sah in Gorgs Augen, daß das nicht der einzige Grund für seine Eile war, und so beließ er es bei einem finsteren Blick auf den Zwerg und eilte hinter Gorg her auf den Drachen zu. Rangarig tobte noch immer. Seine Krallen zerfetzten den Boden, und sein Schwanz und die riesigen Flügel peitschten durch die Luft.
»Mehr!« grollte er. »Wo sind sie?! Ich will sie zerreißen!« Kim schauderte. Was er in Rangarigs Stimme hörte, das war ...
Er fand keine Worte dafür. Aber es erschreckte ihn zutiefst. Rangarig kam ihm plötzlich vor wie ein ungezähmtes Raubtier, das Blut geschmeckt hatte. Fast fürchtete er sich vor ihm, als er hinter dem Riesen hinaufkletterte und sich an Rangarigs Schuppen festkrallte, während der Drache abhob und schnell wie ein Pfeil in der Nacht verschwand.
XII
»Das war keine besonders gute Idee«, war Priwinns einziger Kommentar, als sie die Lichtung wieder erreicht hatten und Kim ihm erzählte, was geschehen war. »Aber jetzt weißt du wenigstens, was wirklich los ist.«
Um sehr viel mehr zu sagen, blieb ihm auch kaum Zeit - Rangarig wartete gerade lange genug auf dem Boden, daß der Steppenprinz, Bröckchen und Sheera auf seinen Rücken klettern konnten, dann hob er mit einem mächtigen Satz gleich wieder ab und flog nach Süden auf den See zu, an dessen Ufer die gläserne Burg lag. Jetzt, so meinte Priwinn, hätte es ohnehin wenig Sinn, weiter Verstecken zu spielen. Und in Gorywynn waren sie sicherer als hier im Wald, wohin ihnen die Zwerge und eine ganze Armee ihrer Eisenmänner mit Bestimmtheit folgen würden.
Obwohl es hart auf Mitternacht zuging, war die Stadt, in deren Mitte sich das Burgschloß erhob, fast taghell erleuchtet. Während sich Rangarig hoch in den Lüften näherte, wuchs sie langsam aus der Nacht heran. Zuerst sah man nur ein mattes, farbiges Glimmen, wie ein blasses Nordlicht, dann einen in allen Farben des Regenbogens schimmernden Edelstein, der schließlich zu einem sinnverwirrenden Gebilde aus nadelspitzen Türmen, gewaltigen Mauern und wehrhaften Zinnen wurde - ein funkelnder Riesendiamant aus tausendfarbigem Glas, der wie ein vom Himmel gefallener Zauberstern am Ufer des Sees lag. Als Rangarig allmählich niederging und - wie ein lebendes Segelflugzeug reglos und mit weit gespannten Schwingen - ein-, zweimal über der Stadt kreiste, sah Kim, daß trotz der vorgerückten Stunde noch ein reges Kommen und Gehen in den gläsernen Straßenschluchten herrschte.